Den Namen Hans Freudenthal verbindet man in Fachkreisen der Mathematik mit dem Gebiet der Topologie. Der niederländische Holocaust-Überlebende leistete dort wichtige Grundlagenarbeit. Zudem machte er sich mit Lehrbüchern und der Gründung eines Journals zu didaktischen Methoden der Mathematik verdient. Doch 1960 veröffentlichte er ein ungewöhnliches Buch. Er legte einen Entwurf für eine Kunstsprache zur Kommunikation mit außerirdischen Wesen vor.

Alien Sprache
Wie mit Aliens reden, sollten wir die Gelegenheit bekommen?
Midjourney

In der Science-Fiction ist der erste Kontakt mit einer nichtmenschlichen Intelligenz ein wiederkehrendes Thema. Doch bevor ein Austausch beginnen kann, muss die Erzählung klären, wie sich die Sprachbarriere überwinden lässt. Während manche Geschichten mit kreativen Lösungen aufwarten, lässt der Autor Stanisław Lem den Kontakt überhaupt scheitern. Das Problem hat auch einen realen Hintergrund, der Gegenstand von Wissenschaft ist. Als die beiden Voyager-Sonden ins All starteten, bekamen sie bekanntermaßen je eine goldene Schallplatte mit auf den Weg, die neben verschiedenen Bildzeichen auch eine Rede des damaligen Uno-Generalsekretärs Kurt Waldheim enthielt. Anders stellt sich die Situation aber dar, wenn über Funk kommuniziert wird und man wirklich gar nichts über die andere Seite weiß.

Das ist die Frage, für die Freudenthal sich interessiert. Bei der Beobachtung menschlicher Sprachen fällt ihm auf, dass mathematische Formeln in Übersetzungen von Texten in verschiedene Sprachen unverändert bleiben. Mathematik scheint eine eigene Sprache zu besitzen, die überall gleich verständlich ist.

Doch selbst wenn die Sprache für den Erstkontakt mathematischer Natur sein soll, bleibt die Frage nach dem Beginn. Dieser muss nicht nur klarstellen, dass es sich um eine Nachricht handelt, sondern auch Begriffe klären und nach und nach ein Vokabular etablieren, das beide verstehen.

Eine Sprache für alles

Das ist das Ziel der Kunstsprache Lincos, eine Abkürzung für Lingua Cosmica. "Lincos muss eine allgemein verwendbare Sprache sein, mit der alle sagbaren Dinge gesagt werden können", schreibt Freudenthal in seinem Buch "Lincos – Design of a Language for Cosmic Intercourse". Konzipiert ist sie für Radionachrichten, doch Freudenthal interessiert sich allein für die Sprache selbst und macht wenige Angaben darüber, wie die Radiosignale für die einzelnen Vokabel aussehen sollen. Sein Interesse gilt "geschriebenem" Lincos und nicht "gesprochenem", wie er es nennt.

"Mathematik ist das abstrakteste Thema, das wir kennen, und zugleich das Thema, von dem man annehme kann, es sei das universellste, das menschenähnlichen Wesen bekannt ist", schreibt Freudenthal. "Deshalb habe ich beschlossen, das Programm mit Mathematik zu beginnen." Und startet mit einer Aufzählung von Zeichen, die später die Bedeutung mathematischer Symbole erhalten sollen, darunter ">" für "größer", "<" für "kleiner", dem Gleichheitszeichen und den Zeichen für Multiplikation und Subtraktion. Es folgt eine Reihe von Punkten. "Jeder Punkt ist ein kurzes Radiosignal", erklärt er und definiert über das Senden von einem, zwei, drei und immer größeren Gruppen solcher Signale die natürlichen Zahlen. Im nächsten Schritt kommen einfache Formeln zum Zug, "fünf ist größer als drei", "vier ist gleich vier". Freudenthal gelingt es, in jeder neuen Nachricht nur ein einziges unbekanntes Vokabel zu verwenden, dessen Sinn sich aus dem Kontext erschließen lässt.

Das Ergebnis mutet für Unbeteiligte recht abstrakt und unübersichtlich an. Lincos ist von den formalen Sprachen inspiriert, mit denen die Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein stabileres Fundament gestellt werden sollte. Indem mathematische Aussagen in eine solche standardisierte Form gebracht wurden, ließen sie sich besser analysieren, und es war möglich, Beweismethoden zu untersuchen und die Mathematik auf sich selbst anzuwenden. Von den Zielen dieser Methoden, etwa das Vermeiden von Widersprüchen bei Bertrand Russell, distanziert sich Freudenthal aber. Er habe versucht, "die Rigidität und Umständlichkeit der logistischen Sprache zu vermeiden", schreibt Freudenthal. Exaktheit sei in diesem Fall nicht so wichtig, entscheidend sei, überhaupt eine Verständigung in Gang zu bringen.

Ein Portrait eines Mannes, der an den alten Einstein erinnert, nur noch verschmitzter.
Der Mathematiker im Jahr 1984.
Gerd Fischer, Attribution-Share Alike 2.0 Germany, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en

Von der Mathematik mitten ins Leben

Nachdem der Einstieg geschafft ist, beginnt Freudenthal nach und nach ein Vokabular für die verschiedensten relevanten Themen zu entwickeln. Auf ein Kapitel der Mathematik folgt eines über Zeit und Zeiträume, gefolgt von einem über Verhalten, von Aktionen wie "sagen" bis hin zu "gut" und "schlecht", wobei Schlechtigkeit bei ihm mit dem Beispiel eines falschen mathematischen Ergebnisses erklärt wird. Tiefere ethische Bedeutung will er damit nicht verbinden. Schließlich gibt es ein Kapitel über Physik, das Konzepte wie Raum, Masse oder Bewegung erklärt.

In seinem Kapitel über Verhalten macht Freudenthal also durchaus Annahmen über die Empfänger, von denen er verlangt, dass sie in Bezug auf ihren Geist und ihre Erfahrungen "menschenähnlich" seien. "Ich wüsste nicht, wie ich mit einem Individuum kommunizieren sollte, das diese Voraussetzungen nicht erfüllt", schreibt er. Es ist eine von vielen Freiheiten, die Freudenthal sich nimmt. Gegen eine zu erwartende Kritik in Bezug auf sein unmethodisches Vorgehen wehrt er sich so: "Systematik ist ein antididaktisches Prinzip", schreibt er. Komfortabel sei es vorwiegend für Lehrende, nicht für Lernende. Diese Polemik ist kein Einzelfall, der Ton zieht sich durch das ganze Buch.

Zu den Sternen

Lincos ist nicht die einzige Sprache zur Kommunikation mit nichtmenschlichen intelligenten Lebensformen. Einerseits gab es bereits vor ihm Ansätze, die Ähnliches zu leisten versuchten. Die Sprache AO des russischen Anarchisten Wolf Gordin war auch ein politisches Statement, das Sprache an sich von allen Klassenunterschieden säubern sollte, damit wirklich alle Wesen gleich seien. Nach Freudenthal gab es weitere Sprachentwürfe, die entweder strikter oder aber einfacher waren als die Sprache des Mathematikers.

Durchgesetzt hat sich Freudenthals Lincos also nicht. Ein 2022 im Fachjournal "Galaxies" vorgestellter Entwurf einer Nachricht zur Kontaktaufnahme mit außerirdischen Lebensformen erwähnt Freudenthal und sein Lincos mit keiner Zeile. Doch um die Jahrtausendwende wurden mehrere in Lincos verfasste Nachrichten im Rahmen des sogenannten Cosmic-Call-Programms an unterschiedliche Sterne gesendet. Freudenthal erlebte das nicht mehr, er verstarb 1990 bei seinem Morgenspaziergang friedlich auf einer Parkbank sitzend. (Reinhard Kleindl, 14.2.2024)