Publikum hat sich für die Uraufführung von
Publikum hat sich für die Uraufführung von "Heldenplatz" am 4. 11. 1988 im Burgtheater mit einem selbstgebastelten Banner bewehrt: "Weg mit Peymann und Havlicek".
Montage: Der Standard und Credit: APA & Getty Images

Eine "Kloake" sei die Republik Österreich, "stinkend und tödlich". Ihre Bewohner? "6,5 Millionen Debile und Tobsüchtige". Wohin man blicke, nichts als Nationalsozialisten. Mit ein paar aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten aus Thomas Bernhards Theaterstück strapazierten 1988 einheimische Blätter, allen voran die Kronen Zeitung, die patriotische Empfindsamkeit ihrer Leser.

Der damalige Wiener Burgtheater-Direktor Claus Peymann, als provokanter "Piefke" für viele ein rotes Tuch, traf Vorbereitungen für die Uraufführung von Heldenplatz. Das Stück seines Leib-und-Magen-Dichters Bernhard sollte pünktlich am 11. März 1988 das Licht der Burg erblicken. Genau 50 Jahre vorher war Kurt Schuschnigg vor dem Druck Nazi-Deutschlands zurückgewichen.

bildungskanal

Daraus wurde nichts, wie auch nicht aus dem zweiten Wunschtermin, dem 14. Oktober (100-Jahr-Jubiläum der Burg). Bernhards Text, eine Verschlusssache, wurde unter der Hand weitergereicht und von allen Missgünstigen als öffentliches Pamphlet behandelt. Lange bevor der Vorhang am 4. November hochging, bewarben sich zahlreiche Stützen der Gesellschaft um ihre Mitwirkung am größten heimischen "Theaterskandal". Die Krone, eben noch Postillon du Bernhard, wirkte nach einer Schrecksekunde empört: "Steuerzahler sollen für Österreich-Besudelung auch noch zahlen".

Die Theaterproben waren kaum angelaufen, da meldeten sich zahlreiche Politiker zu Wort. Ihr Wissen beruhte auf Hörensagen. Ex-Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) – ihn hatte Bernhard einmal als "Höhensonnenkönig" beschimpft – sprang dem verunglimpften Staat zur Seite. Er ließ ausrichten, so etwas dürfe man sich "nicht gefallen lassen". FPÖ-Chef Jörg Haider paraphrasierte ausgerechnet Karl Kraus und meinte mit Blick auf Bernhard: "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!"

Alles vermodert

Auch Bundespräsident Kurt Waldheim bekam in Heldenplatz sein Fett ab. Zwei Jahre nach seiner umstrittenen Wahl sah er das österreichische Volk durch Bernhard und Peymann "grob beleidigt". "Österreich selbst ist nichts als eine Bühne, auf der alles verlottert, vermodert und verkommen ist ...": Die Rollenrede eines gewissen Professor Schuster (ihn spielte Wolfgang Gasser) reizte nicht nur Kulturkonservative bis aufs Blut. Die Uraufführung wurde von Demos begleitet. Man lud dampfenden Mist vor der Burg ab – und brachte die Trillerpfeife zu Theaterehren. Das Ergebnis: ein mehr als halbstündiger Schlussapplaus, den Bernhard schmal und todkrank mit feinem Lächeln entgegennahm. Unter den Krakeelern auf der Galerie: ein gewisser Heinz-Christian Strache.

Österreichs Kultur barocker Repräsentation war ein letztes Mal ad absurdum geführt. Unter Beteiligung ganzer Heerscharen von Wichtigtuern wurden die Bretter, die die Welt bedeuten, als Holzweg ausgelegt. Die gesamte Republik beteiligte sich an der Herstellung ein und desselben Stückes: Die wahre Tragödie der Zweiten Republik bestand in der Weigerung, Mitverantwortung für die Nazi-Verbrechen zu übernehmen. Die Auseinandersetzungen rund um die Waldheim-Wahl 1986 fanden durch Heldenplatz ihr Nachspiel. Der "Skandal" bildete zu Bernhards Tragödie das dazugehörige Schmierentheater.

Das Wiener Burgtheater glich einem Medium. In seinem Spiegel rissen verdiente Funktionsträger des öffentlichen Lebens plötzlich schauerliche Fratzen. Der König war nackt. Dieser Blöße galt Bernhards stilles Lächeln.

Oper, wo der Skandal zum Alltag wird

Johann Strauß’ Fledermaus als Abschiedsgeschenk von Intendant Gerard Mortier bei den Salzburger Festspielen? Unvergesslich die giftige Regie von Hans Neuenfels. Auch zum Vokalen hatte der Deutsche so seine Ideen ... Bassbariton David Moss krächzte als Prinz Orlofsky Ich lade gern mir Gäste ein provokant verkokst. Ein unfassbarer Buhorkan entlud sich über dem US-Sänger, der jedoch nicht klein beigab. Da Moss mikroverstärkt sang, brüllte er das Publikum mit der Textzeile "Chacun à son goût!!!" in Richtung kurzer Schockstarre.

Es war 2001 der Höhepunkt eines geplanten Skandals, inszeniert von Meister Neuenfels auch im Sinne der Dekuvrierung jener Geisteshaltung, die zur Machtergreifung der Nazis führen sollte. Selbst für Opernverhältnisse war das außerordentlich heftig; Erregung ist ja an sich opernimmanent.

Kaum erkling ein falscher Ton, beginnt das Zischen. Kaum ist eine originelle Operndeutung zu sehen, entlädt sich Frust. Eine engmaschige Vorstellung von Werktreue jagt den Opernblutdruck hoch, bisweilen vor der Premiere.

Bei der Generalprobe von
Bei der Generalprobe von "Tristan und Isolde" in der Wiener Staatsoper kam es vor zwei Jahren zu Protesten, Direktor Bogdan Roščić schritt ein.
Michael Pöhn/Staatsoper

So schritt Staatsoperndirektor Bogdan Roščić bei der Generalprobe von Tristan und Isolde verbal ein, um bereits während der Aufführung ausbrechende Proteste zu unterbinden. Unvergesslich auch die Macbeth -Inszenierung von Vera Nemirova – noch in der Ära Ioan Holender. Vom Beginn an wurde wellenartig gebuht. Am Rande des Abbruchs torkelnd, wurde wie durch ein Wunder doch zu Ende gespielt.

Solche Skandälchen bleiben allerdings folgenlos und gesellschaftspolitisch irrelevant. Im Gegenteil. Sie führen zur Legendenbildung und bescheren einen Edelplatz in der Geschichte, etwa für Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-Ring. Was wurde 1994 auch bei Aida an der Grazer Oper gegen die Regie von Peter Konwitschny protestiert! Wegen Tumulten musste die Vorstellung mehrfach unterbrochen werden. Mittlerweile gelten diese Jahre als goldene Grazer Opernära.

Warum das Theater nicht mehr für Skandale taugt

Mit Geschrei und händeringenden Unmutsbekundungen, ja gar Ohnmachtsanfällen, wie sie noch aus Molières Zeiten verbürgt sind, ist in Theatersälen der Gegenwart nicht mehr zu rechnen. Einerseits weil es keine luftabschnürenden Korsagen mehr gibt. Vor allem aber bewegt sich die Erregungskurve gegenüber künstlerischen Behauptungen seit einigen Jahren mehr und mehr in Richtung Nullpunkt.

In einer digitalisierten, aufgeklärten und gegenüber Provokation abgestumpften westlichen Welt sind die Orte des Skandals andere geworden. Wer seine Meinung kundtun möchte, muss dies längst nicht mehr im Publikumsrund nach einer Vorstellung tun, sondern der oder die macht sie auf Social-Media-Kanälen publik. Das ist bequemer, zeitsparend, und die Hemmschwelle ist zudem deutlich niedriger.

Marco Goecke, damals Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, beschmierte vor einem Jahr eine Kritikerin mit Exkrementen seines Hundes.
Marco Goecke, damals Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, beschmierte vor einem Jahr eine Kritikerin mit Exkrementen seines Hundes.
APA/dpa/Christophe Gateau

Dem Theater, das sich gern als wichtige Adresse für geistige Auseinandersetzung und soziale Interaktion verstanden sehen will, wurde dahingehend der Rang abgelaufen. Wenn es in die Schlagzeilen findet, dann am ehesten über außerkünstlerische Aufreger wie Machtmissbrauch oder über Kurioses wie im Vorjahr die sogenannte Hundekotattacke in Hannover (eine Kritikerin wurde vom Direktor mit Exkrementen beschmiert).

Skandale aber, die von der Bühne ausgehen, indem sie das moralische oder ästhetische Empfinden des Publikums über Gebühr strapazieren, sind ausgestorben. Weder Nacktheit noch "unzüchtige Handlungen" verursachen heute Ablehnung, wie sie noch Schnitzlers Reigen 1921 zum Verhängnis wurden. Das Kunstfreiheitsgesetz hat alles eingemeindet, man klatscht alles weg.

Zugleich findet sich die für das Theater wichtige "bürgerliche Mitte" heute deutlich diversifizierter vor. Selbst durch Vagina Monologe fühlt sich niemand mehr brüskiert. Eve Enslers Stück (1996) ist eher ein Kulttext geworden. (Ronald Pohl, Ljubiša Tošic, Margarete Affenzeller, 9.2.2024)