Geschütze im Vordergrund, im Hintergrund der Wiener Gemeindebau Karl-Marx-Hof
Wien 1934, als Österreicher gegen Österreicher kämpften. Die Geschütze sind auf den Karl-Marx-Hof gerichtet.
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Im Jahr 1948 erschien die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der österreichischen Zwischenkriegszeit, verfasst durch den US-Amerikaner Charles A. Gulick. Dieser lastete den Untergang der Republik eindeutig den Christlichsozialen an. In Österreich löste das Buch den ersten Geschichtsstreit der Zweiten Republik aus. In enger Abstimmung mit dem ÖVP-geführten Unterrichtsministerium, finanziell unterstützt durch Industriellenvereinigung und Bankiers, sollte ein Team von Historikern eine konservative Gegenerzählung verfassen. Am Ende des mehrjährigen Projektes stand eine für die Initiatoren frustrierende Erkenntnis. Entweder nämlich gelangte man im Wesentlichen zu denselben Schlüssen wie der als "Roter" angefeindete Charles A. Gulick – oder man musste schlicht lügen, wofür sich die beteiligten Historiker nicht hergeben mochten.

Am Gesamtbild war nicht zu rütteln: Die christlichsoziale Parteiführung hatte 1933/34, unterstützt durch Wirtschaftseliten, Ministerialbürokratie, katholische Kirche, Exekutive und Militär, Hochverrat begangen. Sie hatte sich mit einer ausländischen Macht, dem faschistischen Italien, verschworen, um die verfassungsmäßige Ordnung im Land zu stürzen, die Opposition zu zerschlagen und eine Diktatur zu errichten. All das ließ sich in etwas vornehmere Worte kleiden. Aber nicht in Abrede stellen.

Eindeutiger Konsens

Worüber wird dann eigentlich noch gestritten? Vor allem um drei vermeintlich ungeklärte Fragen: die Motive hinter der Errichtung der Diktatur; die "wahren" Absichten der Sozialdemokratie; und schließlich, welchem Regimetyp die Diktatur unter Engelbert Dollfuß und seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg zuzurechnen ist.

Warum setzte unter Dollfuß eine amtierende Regierung die geltende Verfassung außer Kraft? Der maßgebliche Führungszirkel der Christlichsozialen hatte sich 1918 nur widerwillig mit der demokratischen Republik abgefunden. Langzeitparteiobmann und Bundeskanzler Ignaz Seipel befürwortete bereits Ende der 1920er öffentlich die Errichtung einer Diktatur. Das spiegelte einen antidemokratischen Konsens wider, der innerparteilich nicht ohne Gegner, aber eindeutig majoritär war. Weil ein Putsch aber mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden war, mochte ihn das Führungspersonal lange nicht auf sich nehmen.

Nur ein Ausschnitt

Das änderte sich Anfang der 1930er, als eine Weltwirtschaftskrise mit einem desaströsen Bankencrash zusammenfiel. Die Bundesregierung reagierte mit einem rigiden Sparkurs und nahm damit schwerwiegende soziale Verwerfungen in Kauf. Als sich daraufhin die Anzeichen verdichteten, dass die Christlichsozialen Neuwahlen verlieren würden, beschloss man, dem zuvorzukommen und die Wahlen gar nicht erst stattfinden zu lassen.

Dass man damit eine Machtübernahme der Nazis habe abwehren wollen, ist nur ein Ausschnitt der historischen Wahrheit: Mehrere Landtags- und Gemeinderatswahlen 1932 ließen alarmierende Radikalisierungstendenzen vor allem städtischer bürgerlicher Schichten erkennen. Den Nazis gelangen tiefe Einbrüche in die deutschnationale und christlichsoziale Wählerschaft. Die sozialdemokratischen Verluste waren deutlich moderater. Dass die Nazis drauf und dran gewesen wären, aus eigener Kraft die Macht zu übernehmen, nahm niemand ernsthaft an. Eher stand zu erwarten, dass Adolf Hitlers Anhänger zu einer bestimmenden Kraft im rechten Parteienspektrum aufsteigen würden. Auch dann freilich hätten sie Koalitionspartner gebraucht, um an die Regierung zu kommen. Die Christlichsozialen, einschließlich Dollfuß, waren einer Zusammenarbeit auch nicht prinzipiell abgeneigt. Der Antisemitismus und die Aversion gegen die Linke bildeten ein gemeinsames geistiges Fundament, auf dem sich aufbauen ließ. So hatte man bereits für die Nationalratswahlen 1927 einen gemeinsamen Listenverband mit zwei NS-Abspaltungen gebildet. Aber die Christlichsozialen wollten in einer solchen Zusammenarbeit nicht die zweite Geige spielen. Und das war 1932 eine reale Option.

"Die narrative Kraft dieses Aufstandes liegt darin, dass er von Beginn an chancenlos war."

Der zweite Streitpunkt betrifft die demokratische Verlässlichkeit der Sozialdemokratie. Man denke nur an die Passage von der "Diktatur des Proletariats" im Parteiprogramm von 1926. Oder an die der Sozialdemokratie (durchwegs ohne Quellenbelege) zugeschriebene Parole "Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel". Richtig ist: Es war ironischerweise die Arbeiterbewegung, die 1918 in Österreich eine bürgerliche Revolution nachholte. Ihre Vision war eine auf demokratische Mehrheiten gestützte Ausdehnung der Demokratie auf die Wirtschaftssphäre. Zu einem Zeitpunkt, als rechte Umsturzversuche immer realistischer wurden, nahm man besagten Passus tatsächlich ins Parteiprogramm auf. Unzweifelhaft handelte es sich jedoch um eine defensive Formulierung, die ausschließlich für den Fall eines Putschversuches von rechts ankündigte, ebenfalls zu repressiven Mitteln zu greifen.

Akt der Selbstbehauptung

Aber dienten die Februarkämpfe 1934 denn wirklich der Verteidigung der Demokratie? Primär waren sie wohl ein Akt der Selbstbehauptung. Die Zerschlagung ihrer Strukturen unmittelbar vor Augen, weigerten sich insbesondere jüngere Anhängerinnen und Anhänger der Sozialdemokratie, kampflos das Feld zu räumen. Sie versuchten, chaotisch und unkoordiniert, einer Obrigkeit Widerstand entgegenzusetzen, die vor aller Augen zur Despotie mutierte. Die narrative Kraft dieses Aufstandes liegt eben darin, dass er von Beginn an chancenlos war. Wie man das bewertet, hat weniger mit der Geschichte selbst, als mit denjenigen zu tun, die auf sie schauen. Man kann darin ein sinnloses Blutvergießen sehen. Oder den Teil einer verschütteten rebellisch-demokratischen Traditionslinie, die es in der österreichischen Geschichte auch gibt, die nur deutlich weniger Eingang ins öffentliche Gedächtnis gefunden hat als die autoritäre Franzl-Sisi-Seligkeit.

Toxisches Label

Abschließend ist da natürlich die Begriffsdebatte. Die Quellen lassen keinen Zweifel darüber zu, dass das heimische Regime sich am italienischen Faschismus orientierte und den Staat nach seinem Vorbild umzugestalten versuchte. Einen Weltkrieg und sechzig Millionen Tote später war das Label aber toxisch geworden. Weitgehend losgelöst von der parallel laufenden wissenschaftlichen Debatte zum Thema verwandten Konservative nun einige Energie auf Abgrenzung. Meist wurde dazu "Faschismus" in Bausch und Bogen als "politischer Kampfbegriff" verworfen. Tatsächlich war er das seit den 1920ern auch. Ebenso wie Selbstbezeichnung – und wissenschaftliches Konzept. Wer den Begriff generell verwirft, schüttet daher das Kind mit dem Bad aus und ignoriert eine große und fruchtbare Forschungslandschaft mit beträchtlichem analytischem Potenzial. Kann man machen. Aber warum sollte man, wenn es um Erkenntnis geht – und nicht um Apologetik? (Florian Wenninger, 11.2.2024)