Hate Speech auf einer Tastatur
Für jene, die nicht im Rampenlicht stehen, ist oft schwer zu verstehen, wie es Menschen ergeht, wenn sie sich in einem Shitstorm wiederfinden.
imago images / Steinach

Das Drama um Alexandra Föderl-Schmid ist ein Weckruf. Shitstorms (Schmähkritik in sozialen Netzwerken) können jeden treffen. Das Leid, das sie auslösen können, geht leicht unter im Gegröle derjenigen, die ihre Unmenschlichkeit, Schwäche oder Selbstzweifel in verbalen Aggressionen und Verachtung gegenüber anderen ertränken.

Für jene, denen das nie passiert ist, die nicht im Rampenlicht stehen, ist oft schwer zu verstehen, wie es mitten im Leben stehenden Menschen ergeht, wenn sie sich in einem Shitstorm wiederfinden. Diese Ausnahmesituation eines Einzelnen ist eingebettet in die Frage, die wir uns in der Politik immer schon stellen: Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Wie brutal sind wir, gerade auch mit jenen, die anders denken? Wie höflich wollen wir sein, wie viel Aggression im täglichen Leben, im echten und im virtuellen, wollen wir ausleben oder ertragen?

Scham hat eine essenzielle Funktion

Der Thermostat dafür ist die Scham. Scham ist, wie der Wissenschafter Thomas Ryan schreibt, "ein integraler Bestandteil eines gesunden menschlichen Funktionierens im persönlichen, sozialen und kulturellen Bereich". Scham stellt sicher, dass Normen eingehalten werden. Der Psychotherapeut Joseph Burgo meint, dass sich das menschliche Repertoire an Emotionen über die Jahrtausende entwickelte, da das Überleben stark von enger Zusammenarbeit im Stamm und der Einhaltung von Verhaltenserwartungen abhing. Für Regelverstöße wurde man gemieden und ausgegrenzt. "Die Angst vor dieser schmerzhaften Erfahrung war der Anreiz, die Regeln zu befolgen und zum Wohl des Stammes zusammenzuarbeiten." Scham hat diese essenzielle Funktion: ein erträgliches Miteinander zu ermöglichen, damit wir uns nicht täglich anpöbeln, oder schlimmer, und damit wir nicht alles, was ein friedliches Miteinander ausmacht, in Gesetzen festschreiben müssen.

Der Ruf der Scham hat gelitten. Bodyshaming – abwertende Äußerungen über das Aussehen anderer – gilt als Form des Bullying beziehungsweise Mobbing. Die Gesellschaft verrechtlicht die Ursachen der Scham, um sie zu ächten. Die Selbsthilfeindustrie ist voller Ratschläge wie Neun Schritte, um Scham loszuwerden. Dazu passt, dass wir in einer Zeit des "move fast and break things" leben. Schnell verändern und Sachen kaputtmachen: Dieser Satz des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg ist das Motto jener Menschen (meist Männer), die eine Freude daran haben, im Namen der Innovation Normen und Konventionen abzuwracken. Oft ist das nicht geleitet von einem Bild der Welt nach der Innovation, sondern einfach: Mach ma mal, dann seh ma scho. Das funktioniert gut für "Jugend forscht", ist aber kein Rezept für Veränderungen hochkomplexer Gesellschaften.

Weniger kaputtmachen, wieder etwas mehr Rücksicht aufeinander nehmen, auch wenn wir in der Sache streiten, mit etwas mehr Scham: Das hätte Charme. (Veit Dengler, 11.2.2024)