"Mama, wenn ich einmal Kinder habe, dürfen die auch einmal die Masern bekommen!" Mit diesem Satz endet ein Aufsatz der Autorin Sara Koenen im Heft "Erziehungskunst", einem Magazin der Waldorfpädagogik. Die Autorin zitiert ihrer Tochter, die gemeinsam mit ihrer Schwester soeben die Masern durchgemacht hat.

Krankheiten, Kinderkrankheiten, Masern;
Der Vergleich von Masern mit einer Bergtour, die es zu bewältigen gilt, ist nur schwer erträglich.
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Der Aufsatz aus dem Jahr 2015 trägt den Titel "Masern zwischen Mut und Meinung". Die Autorin vergleicht die Krankheit mit einer Bergtour: "Masern durchmachen ist wie in die Berge gehen." Die Autorin Koenen ist offenbar geschulte Bergführerin, und die Tour hat es in sich: "Jeder Atemzug, jeder Schritt kann schmerzen, kann sich aber auch lohnen. Wenn ich den Gipfel erreicht habe: welch ein Triumph! Ich habe es geschafft! Die Aussicht. Eine ganz neue Sichtweise. Ich bin über mich hinausgewachsen, blicke klar in eine neue Ferne, habe meinen Horizont erweitert. Und dann bin ich über den Berg."

Schwer erträglicher Euphemismus

Der Aufsatz ist ob der bizarr wirkenden Verklärung der Krankheit schwer erträglich. Von einer angeblich harmlosen Kinderkrankheit Masern berichtet die resche Bergführerin nicht. Ein Kind fiebert mit 40 Grad und muss ins Krankenhaus, die Autorin bleibt cool und vergleicht das mit dem Aufstieg ins Hochgebirge und der "Flucht in eine Berghütte".

Die Ärzte im Krankenhaus halten offenbar nicht viel von einer Hüttengaudi, die Autorin flachst in ihrem Abenteuerbericht dennoch: "Die Ärzte erfreuen sich an den schönen sich ihnen präsentierenden Masernbildern. Alle kommen zur Visite, es wird deutlich, dass die Masern selten geworden sind, ehrfurchtsvoll und mehr oder weniger in die obligatorischen Schutzkleider gehüllt, stehen sie alle vor den Betten, vom Chefarzt bis zum Praktikanten, begutachten die Verläufe und können wunderbar vergleichen."

Taliban, Anthroposophen und die Impfung

Wir erinnern kurz: Gegen die Masern gibt es seit den 70er-Jahren eine Impfung, bei einer entsprechend hohen Impfrate wäre die Krankheit weltweit längst ausgerottet. Impfungen gegen Kinderkrankheiten waren und sind unterschiedlichsten Soziotopen ein Dorn im Auge. Influencerinnen mit wenig Ideologie und umso mehr Sendungsbewusstsein machten gegen Schutzimpfungen ebenso mobil wie religiöse Kämpfer mit fundiertem Weltbild. Vor allem in Zentralasien agitierten islamistische Kreise wie etwa die Taliban immer wieder gegen Impfkampagnen und attackierten Impfteams, weil sie hinter Impfungen generell westliches Teufelswerk vermuteten. Mittlerweile scheint man am Hindukusch zumindest teilweise umgedacht zu haben. Vor allem die Rückkehr der Kinderlähmung in Afghanistan scheint den Taliban Sorgen zu bereiten – gegen diese Kinderkrankheit wurde von den Machthabern in Kabul zuletzt sogar eine Impfkampagne angekündigt.

Auf derlei Umdenken hofft man bei den heimischen Impfgegnern vergeblich. Im aufgeklärten Westen wird unbeirrt gegen die Immunisierung geritten. Das liegt vielleicht am Ideengeber der Waldorfpädagogik, dem Anthroposophen Rudolf Steiner (1861 bis 1925). Steiner meinte einst, dass man gegen das Karma nicht heilen könne. Seine Jünger sind offenbar davon überzeugt, dass man gegen das Karma und seine letztlich gerechten Rundläufe nicht animpfen soll.

Wirre Deutungen des Anthroposophen Steiner

Zu dem Masern äußerte sich Steiner eher unkonventionell, seine Interpretation der Krankheit: "Wenn das Kind zu viel Milch kriegt, weil die Mutter zu viel erzeugt, bekommt das Kind einen unsicheren Instinkt und isst selber zu viel. Dann wird zu viel hineingestopft, da kann der Kopf nicht nach; dann ist er zu langsam, um das Viele da hineinzukriegen. Dann muss er sich wehren, damit das ausgeworfen wird, damit das weggeht. Aber das ist ja schon von dem Darm ins Blut hineingegangen; er kann es nicht mehr auf dem natürlichen Wege des Wiederablassens oder der Verdauung wegwerfen, denn es ist schon ins Blut hineingegangen. Was tut er? Er muss es auswerfen durch die Haut. Scharlach, Masern entstehen!"

Der Schriftsteller Steiner äußerte sich aber nicht nur zu einzelnen Krankheiten, sondern auch zum Metathema. Juden verortete er als überproportional vertreten im medizinischen Gewerbe: "Das stammt noch aus dem Mittelalter; sie fühlen sich noch zu der Medizin sehr hingezogen, weil es ihrem abstrakten Denken entspricht. Dieser abstrakten Jehova-Medizin ist eigentlich ihr ganzes Denken angepasst; sie entspricht ihnen."

Masern als eine Prüfung für Kinder

Steiner und seine Anhänger denken nicht so abstrakt. Sie lieben Erzählungen und Bilder: Bilder des schneidigen Kindes, das von nicht weniger schneidigen Eltern durch eine Krankheit begleitet wird. Die Masern sind eine Prüfung für die Kids, die man gemeinsam tapfer erduldet und aus der das Kind angeblich gestärkt hervorgeht.

Wer in Foren alternativmedizinisch bewegter Eltern stöbert, wird von enormen Entwicklungsschritten lesen, die sie bei ihren Kindern nach überstandenen Masern beobachten konnten. Geimpften Kindern werde die Erfahrung dieser harten, aber klärenden Prüfung im Kinderzimmer vorenthalten. Dass weltweit tausende Kinder sterben, weil die Masern eben noch nicht ausgerottet wurden, juckt dort niemanden. Wer an Masern stirbt, hatte eben nicht die Konstitution für diese doch herausfordernde Welt.

Steiner-Ideologie klingt mitunter zynisch

Das Gedankengut der Steiner'schen Weisheiten zu Krankheit und Kinderseele bewahren heute vor allem die Rudolf-Steiner-Reform- oder -Waldorfschulen. Sie sind die Wagenburgen impffeindlicher Eltern, die wenig von "Jehova-Medizin" halten. Anthroposophische Medizinerinnen und Mediziner begleiten diesen Unsinn mit euphemistischer Deutung von Krankheit und Leid. Michaela Glöckler ist die Grande Dame der anthroposophischen Medizin. Ihr Buch "Kindersprechstunde" ist seit Jahrzehnten ein Bestseller. In dem Schmöker bekommen Krankheit und Leid endlich Sinn. Alles ist in einem ewigen Kreislauf eingebettet, Reinkarnation ist eingepreist.

Im Kapitel "Sinnfindung – Krankheit als unbewusste spirituelle Erfahrung und Initiation" zitiert Glöckler ein achtjähriges Mädchen, das unheilbar an Leukämie erkrankt ist. Es tröstet seine Mutter mit den Worten: "Mama, sei doch nicht so traurig, ich komme ja wieder." Zum Thema "Plötzlicher Kindstod" schreibt Glöckler: "War es ein bloßer Inkarnationsversuch (…) war die soweit aufgebaute Körperlichkeit doch nicht tauglich für das geplante Erdenleben, weswegen ein neuer Start notwendig ist?"

Wird jemand, der den Tod eines Kindes locker mit einem Neustart etikettiert, eine Impfung gegen eine potenziell tödliche Krankheit empfehlen?

Glöckler empfiehlt in Ihrem Ratgeber keine Impfungen gegen Kinderkrankheiten, sie rät auch nicht generell davon ab. Vieles stellt sie wider die Evidenz zur Diskussion oder verpackt Zweifel via Konjunktiv: "Impfungen werden durchgeführt, weil sich die Menschheit durch Epidemien von Infektionskrankheiten bedroht fühlt (…) Durch Impfungen sollen Menschen vor ansteckenden Krankheiten geschützt werden." Glöckler hat in ihrem Buch den Kalauer des "individuellen Impfentscheids" in die Welt gesetzt. Individualität hat ihren Preis: Wir werden noch einige individuelle Heldengeschichten vom Durchleben der Krankheit hören in nächster Zeit. Diese Geschichten kommen von den Eltern, nicht von den Kindern. Die durchleben und durchfiebern die Konsequenz anthroposophischer Ideologie im Krankenbett – wenn alles gutgeht. Tausende Kinder werden heuer rund um den Erdkreis wegen der Masern zu Grabe getragen werden, und über die wird niemand einen Abenteuerbericht schreiben. (Christian Kreil, 20.2.2024)