Kaum eine Tiergruppe weist derartig breitgestreute popkulturelle Qualitäten auf und hat die Fantasie ganzer Generationen so angeregt wie die Dinosaurier. Spätestens seit "Jurassic Park" sind die mesozoischen Echsen Garanten für Blockbuster, doch schon lange davor eroberten sie die Leinwände: Schon 1914 wurde "Gertie the Dinosaur" der erste Trickfilmstar. Zwei Jahre zuvor veröffentlichte Arthur Conan Doyle seinen Roman "The Lost World".

"Duria antiquior" – das "ältere Dorset" – ist ein Aquarell des Geologe Henry De La Beche aus dem Jahr 1830. Das Bild ist die älteste Darstellung einer Lebensszene aus dem Mesozoikum auf Basis der Fossilfunde Mary Annings. Das erste Kunstwerk einer Gattung, die heute als "Paleo Art" bekannt ist, zeigt noch keine der erst wenige Jahre zuvor beschriebenen Dinosaurier.
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Auch wenn sich die Ansichten über ihre Erscheinungsform doch immer wieder drastisch veränderten, ist aus dem heutigen Blickwinkel die Vorstellung schwierig, dass es einst eine dinosaurierlose Zeit gab – in der niemand etwas von der Existenz der urzeitlichen Giganten wusste, von der Gruppe der Vögel einmal abgesehen. Und doch ist diese Zeit nicht lange her – in geologischen Dimensionen gerechnet sowieso, aber auch mit Blick auf die Geschichte der Menschheit.

Zweite Ära der Dinosaurier

Zwar dürften Funde fossiler Überreste längst vergangener Zeiten die Menschen schon seit Anbeginn beeinflusst haben. Doch Dinosaurierfunde sind selten und waren es in früheren Zeiten erst recht. Viele Erzählungen über vorsintflutliche Riesen oder Drachen dürften daher eher auf Funde von Knochen der eiszeitlichen Megafauna zurückgehen.

Am 20. Februar 1824, also vor genau zweihundert Jahren, begann das zweite, das wissenschaftliche Zeitalter der Dinosaurier, nachdem ihr erstes Zeitalter, ihre über 165 Millionen Jahre dauernde Herrschaft über die Erde, vor 66 Millionen Jahren abrupt von einem Asteroideneinschlag im heutigen Yucatan beendet wurde. An diesem Tag lieferte der Theologe und Geologe William Buckland in einer Sitzung der Geological Society of London mit seiner "Bekanntmachung über den Megalosaurus oder die große fossile Echse von Stonesfield" die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Dinosauriers – wobei freilich die Bezeichnung Dinosaurier erst 18 Jahre später von Richard Owen geprägt wurde, und zwar auf der Basis des Ornithopoden Iguanodon, des Ankylosauriers Hylaeosaurus und natürlich Bucklands "großer Echse", dem Theropoden Megalosaurus.

Benjamin Waterhouse Hawkins schuf für den im Jahr 1854 neu eröffneten Crystal-Palace-Park im Süden Londons 33 Skulpturen urzeitlicher Tiere gemäß dem damaligen Stand der Wissenschaft. Bei drei der 15 dargestellten Arten handelt es sich um Dinosaurier, und zwar jene Arten, auf deren Basis Richard Owen 1842 das Taxon "Dinosauria" aufstellte: Iguanodon, Hylaeosaurus und, wie auf dem Bild zu sehen, Megalosaurus.
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Erster kompletter Plesiosaurier

In derselben Sitzung wie Buckland stellte sein Kollege William Daniel Conybeare auch das erste komplette Skelett des Meeressauriers Plesiosaurus dolichodeirus vor, das im Jahr davor von der legendären Fossiliensammlerin Mary Anning an der Jurassic Coast in Lyme Regis gefunden wurde. Das georgianische England erlebte ein goldenes Zeitalter der Paläontologie, wobei das geologische Wissen über die Erdzeitalter noch rudimentär war. Die Erkenntnisse über die "tiefe Zeit" der Erde waren noch jung und Thema scharf geführter wissenschaftlicher Debatten. Buckland selbst war ein Anhänger der Sintfluttheorie, was ihn danach trachten ließ, seine Forschungsobjekte in Einklang mit den Aussagen der Bibel zu bringen. Er vermutete eine amphibische Lebensweise des Megalosaurus, ähnlich jener von Krokodilen und Schildkröten.

In der selben Sitzung, in der Buckland Megalosaurus vorstellte, präsentierte William Conybeare den ersten kompletten Plesiosaurier.
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Die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung des jurassischen Spitzenprädatoren Megalosaurus reicht dennoch viel weiter vor Bucklands Arbeit zurück: Im Jahr 1677 zeigte Robert Plot in seiner "Naturgeschichte von Oxfordshire" in einer Abbildung ein heute verschollenes, aber möglicherweise von Megalosaurus stammendes Fragment des distalen Gelenks eines Oberschenkelknochens aus einem lokalen Steinbruch. Plot hielt es für einen Überrest eines Kriegselefanten aus der Römerzeit oder aber eines Riesen. Ein knappes Jahrhundert später befasste sich Richard Brookes 1763 in seinem "Neuen und genauen System der Naturgeschichte" mit demselben Gelenksfragment, das er aufgrund der Form als "Scrotum humanum" bezeichnete: "Steine, die genau die Geschlechtsteile eines Mannes darstellen". Zum Glück ist Brookes' Bezeichnung heute ein Nomen oblitum, also eine taxonomisch ungültige Benennung, denn "menschlicher Hodensack" wäre doch eine äußerst unglückliche Artbezeichnung für den ersten Dinosaurier.

Das Bruchstück eines Oberschenkelknochens ist vermutlich die erste bildliche Darstellung eines Dinosaurierknochens, die 1677 in Robert Plots Buch "Naturgeschichte von Oxfordshire" erschien.
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William Buckland nutzte für seine Erstbeschreibung des Megalosaurus unter anderem dieses Unterkieferfragment, das heute der Lectotypus der Art ist. Die Zeichnungen der Funde wurden von Bucklands Frau Mary angefertigt.
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Lückenhaftes Puzzle

Die Knochen, die Buckland für seine Beschreibung von Megalosaurus zur Verfügung standen, stammten aus diversen, teilweise länger zurückliegenden Funden. So war das Unterkieferfragment, das heute den Lectotypus von Megalosaurus darstellt, bereits in den 1790er-Jahren in einem Steinbruch in Stonesfield bei Woodstock gefunden worden. Doch abgesehen von ein paar Wirbeln des Kreuzbeins lagen Buckland keine Knochenfunde vor, an denen noch der anatomische Verband nachvollziehbar gewesen wäre. Das Material stammte vielmehr von verschiedensten Individuen. Trotzdem schloss er zweifelsfrei, die Überreste riesiger Echsen vor sich zu haben. Er stand im engen Austausch mit seinen Kollegen, insbesondere mit dem Arzt Gideon Mantell.

Mantell war es auch, der 1827 den Gattungsnamen Megalosaurus Buckland zu Ehren mit dem Artepitheton bucklandii ergänzte, er lieferte 1825 respektive 1833 auch die Erstbeschreibungen von Iguanodon und Hylaeosaurus. Zweifellos war Buckland auch mit dem Arzt und Mitbegründer der Geological Society James Parkinson wegen der rätselhaften Knochenfunde in Kontakt. Parkinson war es, der schon 1822 als Erster in seinem Buch "Grundzüge der Oryktologie" den Namen Megalosaurus nannte. Er verglich die in Oxford verwahrten Überreste mit modernen Waranen und zeigte sich zuversichtlich, dass bald eine wissenschaftliche Beschreibung folgen würde.

Zweifel

Ob Buckland und Conybeare in letzter Konsequenz bewusst war, welch wissenschaftlich einschneidende Erkenntnisse sie in dieser denkwürdigen Sitzung präsentierten, ist unklar. Allerdings lässt sich aus Conybeares Worten ein hoher Rechtfertigungsdruck herauslesen. Schon 1821 hatte er auf Basis von Einzelfunden die Gattung Plesiosaurus aufgestellt. Das nunmehr gefundene komplette Exemplar bewies zweifelsfrei, was er zuvor postuliert hatte. Es sei natürlich und gerechtfertigt, dass bei vielen Personen Zweifel an seinen Ergebnissen vorhanden gewesen seien, und es sei der Verdacht nachvollziehbar, dass er ein erfundenes Tier zusammengestellt habe. Doch das wundervolle Exemplar aus Lyme habe seine Schlussfolgerungen bestätigt.

Buckland hingegen veröffentlichte seinen Bericht im Wissen über den mehr als lückenhaften Zustand der Überreste mit der explizit geäußerten Hoffnung, dass sich Besitzer weiterer Teile melden mögen. Tatsächlich wurden in den folgenden hundert Jahren zahlreiche Funde Megalosaurus zugeordnet, die einer Überprüfung in den seltensten Fällen standhielten – die Gattung wurde zu einem Papierkorb-Taxon, in das alle nicht näher bestimmbaren Theropodenreste geworfen wurden. Megalosaurus bleibt daher auch nach 200 Jahren weiterhin einer der enigmatischsten Dinosaurier, während viele seiner Kollegen weitaus erfolgreicher wurden – sowohl im wissenschaftlichen Forschungsstand als auch in der Popkultur. (Michael Vosatka, 20.2.2024)