Was als Blitzkrieg geplant war, hält nun seit zwei Jahren an. Noch immer prasseln Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, der am 24. Februar 2022 von Russland entfacht wurde, auf uns ein. Sofern wir es gestatten. Denn wir haben die Möglichkeit abzuschalten, die Medien auszuschalten. Doch ist es nicht so, dass unsere Aufnahmekapazitäten bereits nach Wochen erschöpft, wir selbst gegenüber den Kriegshandlungen aus der Ferne abgestumpft waren? Um zu begreifen, ist ein Rückzug – verknüpft mit einem Blick zurück – nicht nur von Nutzen, sondern vonnöten.

Ukraine-Comic
Das Grauen des Krieges in Pastellfarben eingefangen hat die Illustratorin Nora Krug.
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Rückblick

Einen solchen Rückblick auf die Anfänge des russischen Angriffskriegs bieten gegenwärtig zwei künstlerische Werke aus dem Bereich der grafischen Literatur, die sich durch ihre individuellen und ästhetischen Herangehensweisen auszeichnen. Nora Krugs Im Krieg – Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg und Igorts Berichte aus der Ukraine – Tagebuch einer Invasion eignen sich für eine Auseinandersetzung mit diesem Krieg, der vor zwei Jahren mit überraschender Wucht einsetzte, tatsächlich aber schon seit einem Jahrzehnt andauert.

Die in New York lebende deutsche Künstlerin Krug (Jahrgang 1977) hat bereits mit ihrem visuell außergewöhnlich gestalteten Debüt Heimat – Ein deutsches Familienalbum (2018) auf sich aufmerksam gemacht. Das international gefeierte, inzwischen in Deutschland zur Schullektüre ernannte Gesamtkunstwerk nimmt die Geschichte Nachkriegsdeutschlands ganz individuell in den Blick.

Ukraine-Comics
Der Tagebuch-Stil lässt den Leser begreifen, wie sich der Kriegsalltag anfühlt.
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Comic-Triptychon

Igorts Tagebuch einer Invasion ist der ungeplante dritte Teil eines Comic-Triptychons, dem seine Berichte aus der Ukraine – Erinnerungen an die Zeit der UdSSR (2011) und Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus (2012) vorausgehen. Die Ukraine zieht sich wie ein roter Faden durch das grafische Werk des italienischen Zeichners, bürgerlich Igor Tuveri, geboren 1958, dem das Verdienst zukommt, sich mit der Geschichte dieses Landes befasst zu haben, als diese Auseinandersetzung hierzulande noch schmählich vernachlässigt wurde. Verheiratet mit der Ukrainerin Galya Semeniuk hat er rund zwei Jahre dort verbracht. Darauf folgten seine Reiseberichte, zugleich Comic-Reportagen und Oral History, in denen er in bestürzenden Bildern die Geschichte des Holodomor, der von Josef Stalin und seinem Apparat verantworteten Hungersnot von 1932/33, und seine Folgen darstellt. Das Mittelstück ist eine Hommage an die investigative Journalistin Anna Politkowskaja, 2006 wahrscheinlich in Wladimir Putins Auftrag ermordet, die einen großen Teil ihres Lebens den Enthüllungen der Gräueltaten des Tschetschenienkriegs gewidmet hatte. Wie Putin "Tschetschenien als Blaupause für die Ukraine" nutzt, hat die deutsche Osteuropa-Expertin Sabine Adler unlängst in einer luziden Analyse aufgezeigt.

Buchcover Nora Krug
Nora Krug, "Im Krieg – Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg". € 28,– / 128 Seiten. Aus dem Englischen von Alexander Weber. Penguin-Verlag, München 2024
Penguin Verlag

Infos von Augenzeugen vor Ort

Als Igort das Tagebuch der Invasion zeichnet, ist er in Italien. Seine Informationen erhält er übers Telefon, von Augenzeugen vor Ort, gelegentlich zitiert er aus sozialen Medien. Oft handelt es sich um Notizen über Ohnmacht und Entsetzen Betroffener, um Berichte über den gefährlichen Kriegsalltag, die Schwierigkeiten der Beschaffung von Lebensmitteln oder Medikamenten, über Fluchterlebnisse, die Kälte, die Angst. Und über tödliche Einzelschicksale. Doch auch kleine Gesten: In Polen etwa haben Frauen Kinderwägen für die ankommenden Flüchtlinge am Bahnhof abgestellt. Die im Italienischen als "Hefte" ("Quaderni") bezeichneten Berichte verweisen auf ihre Vorläufigkeit, die Flüchtigkeit der wechselnden Ereignisse, damit die Zerbrechlichkeit des Lebens. Zwischen die Berichte flicht der Autor Informationen über Hintergründe ein: über das Budapester Memorandum, über den Einmarsch russischer Truppen in Georgien, die Krim-Annexion, den schleichenden Krieg im Donbass. Oder auch über die ukrainische Rechte von Stepan Bandera bis zum Asow-Regiment.

Dass seine historischen Kontextualisierungen kursorisch, mitunter verkürzt bleiben, muss man nicht bestreiten. Die Absicht, den Menschen ein Gesicht, dem Grauen einen Namen zu geben, steht im Vordergrund. Implizit auch die Frage der Darstellbarkeit. In die ersten 100 Tage des Angriffskriegs, die das Tagebuch umfasst, fallen die Belagerung von Mariupol, die Bombardierung des Theaters, schließlich die Massaker von Butscha und Borodjanka.

Neben ausrangierten Panzerwracks und verkohlten Gebäudegerippen deutet Igort die toten Körper von Zivilisten an, die in einer entfesselten Grausamkeit von russischen Soldaten erschossen wurden. Seine Zeichnungen in matten Pastellfarben entziehen sich oft bewusst ihren Details, andere sind eingetaucht in dichtes Dunkel. Manchmal verbietet sich jede Art der Darstellung, nur ein Text auf schwarzem Hintergrund berichtet von den Waisenkindern aus Irpin und Butscha, die gezwungen wurden, den Hinrichtungen ihrer Eltern beizuwohnen.

Zerbombte Häuser, menschenleere Straßen: Alltag in der Ukraine

Eine Journalistin und ein Künstler

Ähnlich wie Igort artikuliert Krug im Vorwort ihre Position gegenüber dem "erneuten, nicht provozierten militärischen Großangriff" Russlands unmissverständlich. Die parallelen Tagebücher bringen allerdings eine völlig neue Dimension in die Kriegsaufzeichnungen ein: Krug hat K., eine in Kyjiw lebende Journalistin, und D., einen Künstler aus St. Petersburg, gebeten, wöchentlich einen Bericht über ihre persönlichen Erlebnisse und Gedanken zu schreiben. "Der offene und verletzliche Ton ihrer Antworten berührte mich." Dabei hatte sie die Personen zuvor nicht gekannt, die ihrerseits keinen Kontakt miteinander hatten. 52 Wochen lang, also das gesamte erste Kriegsjahr hindurch, hat die Autorin deren Aufzeichnungen gesammelt, gegenübergestellt und sie mit Illustrationen versehen. Ein Großteil der Tagebucheinträge wurde in der Los Angeles Times veröffentlicht, Ausschnitte sind in europäischen Zeitungen erschienen. Krug hat K. und D. nach und nach auch Fragen gestellt: über die Veränderung ihrer Beziehung zu ihren Familien, über psychische und physische Folgen, über Begriffe wie Schuld, Opferbereitschaft, Vergeltung und Entschädigung. Außerdem hat sie ihre Berichte in Absprache mit den Verfassern in eine zusammenhängende Form gebracht. "Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Aber ich weiß, dass dies das Ende von Putins Russland ist" (K., Woche 1). Die Journalistin fährt, wie übrigens auch ihr Mann, immer wieder an die Front, um zu berichten. Ihre Kinder (2 und 6) bringt sie bald nach Dänemark zu ihrer Mutter. Die Belastung aufgrund der Trennungen, die Erschöpfung durch die Arbeit, der Schmerz angesichts von Todesfällen im Bekanntenkreis werden zunehmend spürbar.

Comic
Die drastischen Bilder von Igort sind uns schon aus seinen vorherigen Graphic Novels in Erinnerung.
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Handlungsbedarf

Auch D. und seine Frau haben Kinder (9 und 10). Nach einigen Wochen reist D. nach Riga, um Möglichkeiten einer Ausreise auszukundschaften. In den russischen Medien liest er einen Artikel, der den Angriff mit der "Entnazifizierung" legitimiert: "Ich kann nicht glauben, dass irgendjemand eine solche Scheiße schreiben kann" (D., Woche 6). Obwohl D. den russischen Krieg eindeutig verurteilt, ist er "kein Aktivist". Um einer Einberufung zu entgehen, zieht er nach Paris, in der Hoffnung, dass Frau und Kinder nachkommen können. Seine Verbundenheit mit dem Land, die Trennung von den Kindern sowie Schuldgefühle zeigen alsbald D.s Zerrissenheit. Krugs Bestreben, die Gegenüberstellung der Perspektiven ihrer beiden Protagonisten "akkurat und einfühlsam zu dokumentieren", auch "wenn ich deren Meinung nicht teile", ist deutlich erkennbar. Sie leistet dadurch einen einzigartigen wie unschätzbaren Beitrag, denn die gegensätzlichen Alltage regen zum Nachdenken an.

Krugs reduzierte Bilder fordern die Reflexion auf einer anderen Ebene heraus. Die emblematisch anmutenden Zeichnungen zeigen meist nur Ausschnitte, kein Gesamtbild. Strikt verweigern sie jegliche ästhetische Unmittelbarkeit. Im Mittelpunkt sind oft Hände, als würden sie auf die dringende Notwendigkeit zu handeln verweisen. Die eingeschränkten Bildeinblicke und verwehrten Zusammenhänge wirken geradezu körperlich beklemmend. Krugs künstlerisches Statement ist ein Aufruf – die Hände nicht in den Schoß zu legen. (Martin Reiterer, 24.2.2024)

Buchcover Igor
Igort, "Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion". € 26,– / 200 Seiten. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Reprodukt-Verlag, Berlin 2023.
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