Künstlerin Yevgenia Belorusets
Yevgenia Belorusets, Autorin und Fotografin, lebt und arbeitet in Kiew und Berlin.
Olga Tsybulska

Yevgenia Belorusets muss als eine der zentralen Stimmen in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Ukrainekrieg wahrgenommen werden. Ihre versatile Arbeit umfasst dokumentarische Fotografie, Essays, Installationen und Erzählungen über marginalisierte Lebensweisen in der Ukraine. In ihrer Literatur bleibt sie immer nah an der Mündlichkeit und weist zugleich ziemlich cool die Gemachtheit menschlicher Ordnungsprinzipien aus.

Seit Jahren ist Yevgenia Belorusets’ scharfes literarisches Auge auf das Leben in der Ukraine gerichtet. Sie hat bisher auf Deutsch Anfang des Krieges. Tagebücher aus Kyjiw und die Kurzprosasammlung Glückliche Fälle beim Verlag Matthes & Seitz veröffentlicht.

Faible für Tiere

Über das moderne Leben der Tiere bearbeitet in Form von überschwänglichen Vorträgen, Mitschriften und liebevollen, aber analytisch sorgfältigen Erzählungen die Tier-Mensch-Dichotomie, die aufgelöst wird. Das Buch ist eine reiche Materialsammlung: Dokument, Mitschrift, Essay, Gesprächsreihe, Selbstbefragung, Mythen- und Märchenarchiv, Kurzgeschichten über das Schicksal. In einem der tollsten Texte (Die Organisation des Zusammenlebens) erzählt eine kindliche Stimme von einem einsamen Aufwachsen in einer ukrainischen Einzimmerwohnung mit Mutter, Tante mit "Faible für Tiere", und also fünf Katzen und einem "Strauß aus Hunden – aromatisch und kläffend". Flashig (also wie der Blitz einschlägt) sind diese Wendungen; obwohl in diesem einsamen Aufwachsen eine Tragik liegt. Zugleich ist die Geschichte wirklich komisch, auch weil die Hundepfoten wie eine schützende Gotteshand wirken.

Fünfzehn Hunde

Kaum springt das Ich aus dem Erdgeschoßfenster, "kamen mir unsere Hunde einer nach dem anderen hinterher.

Hund eins.
Hund zwei.
Hund drei.
Hund vier.

Fünfzehn Hunde! Einer nach dem anderen flogen sie hinaus, so verwegen konnten sie springen." Sie "flogen wie Funken und Blitze und zerteilten die Luft".

Belorusets spielt, wenn sie schreibt, und es ist ein Buch, das man eigentlich laut lesen sollte, weil dann der feingetunte Klang ihrer Erzählungen hörbar wird. Ihre Wortwahl erinnern an die präzise frühe Lyrik der in Wien lebenden Schriftstellerin und Übersetzerin Ganna Gnedkova (als Herausgeberin: Ukraine mon amour, Passagen-Verlag).

Yevgenia Belorusets, "Über das moderne Leben der Tiere". € 22,– / 209 Seiten. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Matthes & Seitz, 2024.
Matthes & Seitz Berlin

Inszeniert und tröstlich

Belorusets fügt den Episoden kleine Schwarz-Weiß-Fotografien von Vögeln oder Hunden an, die inszeniert und gleichzeitig tröstlich frei sind. So was könnte auch auf Instagram vorgeschlagen werden, aber man hätte nicht so viel Freude daran, weil der Kontext für diese Bilder fehlt und man wahrscheinlich wenige Gedanken daran verlieren würde.

Es sind Gleichzeitigkeiten, die allgemein in Belorusets’ künstlerischen Arbeit spürbar werden, die den Alltag aushebeln können (vor allem beim lauten Lesen). Klassiker der Kulturanthropologie sind geistiges Hinterland des Buchs, nur selten ist es ein bisschen zu viel an theoretischer Überlegung. Dass in dem Buch gleich vier Einstiege zu finden sind und mehrere Kapitel Anfang heißen, erinnert an den geschickten und so feinen neuen Lyrikband von Anja Utler, Es beginnt. Trauerrefrain (Edition Korrespondenzen), in dem ein Trauerprozess zum Krieg in der Ukraine dokumentiert wird.

Dringliche Anfänge

Das Beginnen wird zum Modus des Erzählens. Beide – Utler und Belorusets – hören nicht auf, Sprech- und Denk-Beginne in ein und demselben Buch zu sammeln, vielleicht weil im Kontext eines fortlaufenden Kriegs überhaupt kein Ende zu schreiben ist und dem wahrhaftigen Ende eines Buches die poetische Dringlichkeit von Anfängen entgegengesetzt werden muss.

Über das moderne Leben der Tiere lässt einen nicht lachend oder wohlig eingerichtet in einer Fantasiewelt bleiben. Es ist ein wichtiges Dokument für ein Gebiet, in dem "the small things, our notions, our small discoveries", wie Belorusets in einem Interview anmerkt, im Angesicht eines Kriegs unbemerkt und schnell verloren gehen können. (Helene Proißl, 24.2.2024)