Es gibt mehrere sichere Wege, sich in Wien als deutscher Tourist zu outen. Eigentlich sind es sogar ziemlich viele. Doch die Socken in den Sandalen, die "Tüte" im Supermarkt, die Beschwerden über Kleinigkeiten beim Personal, das muss sich alles mit Platz zwei oder schlechter begnügen. Der heimliche Champion der Erkennungszeichen als Deutscher offenbart sich am Wiener Würstlstand. Nämlich dann, wenn der Urlauber eine "Eitrige" bestellt, gern auch mit "Bugl" oder "16er Blech". Weil so macht man das ja in Wien. Es gibt da aber ein Pro­blem: Dass man das in Wien so mache, ist vielen Wienern unbekannt.

Brotscheibe mit Plastikgabel, Käsekrainer, Senf und Kren
Auch ein Klassiker: Käsekrainer mit frischem Kren
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Der Würstlstand gehört zu Wien dazu, soweit stimmen die Klischees. Auch wenn viele davon in den letzten 30 Jahren von Kebabbuden ersetzt wurden, gibt es ihn noch immer in vielen Teilen der Stadt. Der Bitzinger versorgt die Touristen zwischen Oper und Albertina, die Würstelbox die Nachtschwärmer im Bereich der Pilgramgasse. Die Bandbreite geht von traditionellen wie dem Würstlstand am Schottentor bis zu experimentellen wie Alles Wurscht bei der Börse.

Bei allen gehört die Käsekrainer – die geräucherte Wurst aus Schweinefleisch, in der heißer Käse darauf lauert, Münder zu verbrennen – zum Kernangebot. Aber niemand nennt sie "Eitrige". Oder doch?

A Haaße mit Krokodü

"Tagsüber sind es fast immer Touristen", sagt Vera Tondl. "Unsere Verkäufer erkennen das dann auch sofort." Tondl kommt quasi aus einer Dynastie des Wurstverkaufs: Sie betreibt den Würstlstand Leo bei der U-Bahn-Station Nußdorfer Straße, den es seit 1928 gibt und der damit Wiens ältester ist. "Im Nachtbetrieb gibt es schon auch mal wieder Wiener Kunden, die noch so bestellen." Es werde aber immer seltener. "So" bestellen beschränkt sich nicht nur auf die "Eitrige", sondern auf das gesamte Vokabular des Würstlstands. Die Burenwurst ist die "Haaße", das Gurkerl das "Krokodü", die Pfefferoni die "Ölige". Das Stück Brot ist der "Bugl", für den es etliche Schreibweisen gibt.

Würstelstand in der Wiener Innenstadt
"Geben S’ ma a Eitrige mit am Bugl und Krokodü!" Wer so am Wiener Würstlstand bestellt, der outet sich sofort als Tourist.
IMAGO/Peter Widmann

Wer in Wien wohnt und die 40 noch nicht überschritten hat, für den mag diese Sprache fremd sein. Aber ältere Wiener bestätigen, dass sie tatsächlich einmal im breiteren Gebrauch war. Vera Tondl glaubt sich daran zu erinnern, dass die Begriffe in den 70er-Jahren entstanden. Andere erinnern sich daran, dass sie in den 80ern bei den besonders "lustigen" Würstlständen auch angeschrieben waren.

Mit der Zeit und nachwachsenden Generationen verschwand die "Eitrige" dann wie vieles andere aus dem Alltagsgebrauch und wurde zum kulturellen Relikt. Noch nicht ganz weg, aber eben auch nicht mehr richtig da.

Lügenpresswurst

Absurderweise lebt das Würstlstandvokabular nicht nur in der Erinnerung älterer Wiener, sondern auch unter deutschen Touristen weiter. Diese können hier ausnahmsweise mal nichts für ihre Eigenheiten. Sie werden von den Medien im Nachbarland, insbesondere den Reiseressorts, schlicht falsch informiert.

Die "Eitrige" taucht dort regelmäßig auf, in quasi jedem Artikel über Wiens Würstl­stände. Zuletzt im Dezember 2023, prominent in einem großen Onlinefeature bei der "Frank­furter Allgemeinen Zeitung" („Eiterquellen“, hic!). Noch einige andere Beispiele aus der Vergangenheit: 2011 schrieben die "West­fälischen Nachrichten", dass man in Wien "A Eitrige mit an Buggl" bestelle. 2013 fand sich exakt dieselbe Info im Kölner "Express" wieder, 2015 in der "Taz".

Würstelstand im 19. Wiener Gemeindebezirk
Currywurst und Käsekrainer in Grinzing
imago stock&people

Bereits 2006 informierte die "Welt am Sonntag" über die "Eitrige" und darüber, wie man sie (angeblich) bestellt. Die Schweizer "NZZ" tat das sogar schon 1995. Wenn der Vorwurf der Lügenpresse irgendwo seine Berechtigung hat, dann ganz offenkundig im Bereich Wurst.

Warum sich das so hartnäckig hält, ist nicht endgültig zu beantworten. Die logischste Erklärung ist, dass man sich den Weg der Information vorstellen kann wie eine Mini-Wini-Würstchenkette: Wenn ein deutscher Reiseredakteur einen Text über Wiener Würstlstände schreiben soll, liest er dafür erst einmal andere deutsche Texte über Wiener Würstlstände. Und vielleicht hinterfragt er die Infos darin zu wenig. Und so springt die ­ "Eitrige" seit Jahren von einem bundesdeutschen Medium zum nächsten, nimmt "Bugl" und "Krokodü" gleich mit und hinterlässt in den Artikeln ihre (Fett-)Flecken. Journalistisch gesehen keine Glanzleistung, aber zum Glück mit überschaubaren Auswirkungen.

Es is a Hetz

Denn man kann das Ganze natürlich auch umdrehen: Es schadet ja niemandem. "Die Touristen machen sich einen Spaß, so zu bestellen", sagt Vera Tondl. Es ist ein Ausflug in den Teil Wiens, der quasi nur für die Touristen existiert, wie die Mozart-Ticketverkäufer oder die Fiaker. Beim Bier wanderte der Begriff sogar in die Realität: Ottakringer griff die Bezeichnung auf und produziert mittlerweile ein Bier namens "16er Blech". Als Einwohner der Stadt kann man das Ganze, so man will, gnädig ignorieren. Leben und leben lassen.

Für eventuell mitlesende bundesdeutsche Journalisten sei es hier trotzdem noch einmal gesagt: Nein, in Wien bestellt man am besten keine "Eitrige", keinen "Bugl" und kein "16er Blech". Wenn man es wirklich wie "die Wiener" machen möchte, dann ordert man ganz schlicht "eine Käsekrainer mit Senf und Kren" und bestellt Brot und ein Bier dazu. "Kren" sprechen manche "Krenn" aus, andere mit der Betonung auf dem "e". Das ist nicht so pittoresk, aber auch weniger wie aus dem ­Museum.

Es gibt übrigens noch ein Argument gegen die "Eitrige". Im STANDARD erscheint eine Serie, wo Menschen drei Dinge nennen müssen, die sie niemals tun würden. Vor einigen Monaten war dort eine junge Betreiberin eines Würstlstands zu Gast. Ihr erstes No-Go war gleich: eine "Eitrige zu verlangen". Damit oute man sich nicht nur schlagartig als Tourist. "Es klingt auch einfach ekelhaft." (Jonas Vogt, 26.2.2024)

Straßenumfrage: Ob Blumenkohl oder Tomate. Bundesdeutsche Begriffe für Gemüse kommen nicht überall gut an. Dabei sind sie verbreiteter als manchen lieb ist.
DER STANDARD