Meine Mama ist nicht alt, aber sie hat Angst vor dem Älterwerden. Diese Angst kam, als meine Großeltern krank geworden sind. Zuerst meine Oma. Krebs. Danach mein Opa. Demenz. Viele Jahre drehte sich im Leben meiner Mutter alles um die Pflege ihrer Eltern und die Frage, ob ein Heim nicht doch vieles leichter machen würde. Die Familie entschied sich dagegen, am Ende half eine 24-Stunden-Betreuung. Essen, anziehen, aufs Klo gehen: Allein ging nichts mehr.

Babyboomer Generation
Expertinnen appellieren, sich früh genug Gedanken zu machen, wie das Leben im Alter aussehen soll.
Getty Images

"Es ist einfach schiach, alt zu werden", sagt meine Mama. Nach dem Tod meiner Großeltern sprachen wir das erste Mal miteinander übers Sterben. Während wir Erinnerungen teilten, sprach ich auch über die Zukunft: "Wer wird dich einmal pflegen, Mama? Wo wirst du wohnen, wenn du nicht mehr Stiegen steigen kannst? Wird es genügen, Hilfskräfte zu engagieren, oder ist ein Umzug unausweichlich?"

Ich schob die Gedanken weg. Bis jetzt. Für diesen Text fragte ich meine Mutter, wie ihr Leben im Alter aussehen soll – und wie wir uns beide besser darauf vorbereiten können.

Realität statt Einfamilienhaus

Meine Mama wird nächstes Jahr 60. Sie ist eine typische Babyboomerin und gehört zu jener Generation, die laut einer aktuellen Studie der Sigmund-Freud-Privatuniversität gerade dabei ist, "blind in eine Pflegekatastrophe" zu laufen. Befragt wurden 1.063 Menschen zwischen 54 und 68 Jahren. Knapp 90 Prozent gaben an, keine konkreten Pläne für den Fall zu haben, dass sie später Hilfe im Alltag benötigen.

Es ist nicht angenehm, über die eigene Pflege- oder Hilfsbedürftigkeit zu reden. Nach ein paar Minuten bricht meine Mutter trotzdem ihr Schweigen: "Das, was ich für meine Eltern getan habe", sagt sie und pausiert, "erwarte ich mir nicht von euch." Ich weiß natürlich, was sie eigentlich sagen wollte: "Ich möchte euch nicht zur Last fallen." Aber sie hat recht. Meine Mutter wohnt im oberen Waldviertel, mein Bruder und ich sind mehr als hundert Kilometer entfernt, wir sind beide erwerbstätig und planen nicht, in ihre Gegend zurückzukehren. "Wir würden es auch niemals so schaffen wie du, Mama", antworte ich.

Nach der Scheidung von meinem Vater zog sie in ein Reihenhaus. Ein kleiner Garten, getrennte Zimmer für die Kinder, nichts, was man sanieren muss: Das waren 2011 die Wohnwünsche meiner Mutter. Es musste leistbar und schnell verfügbar sein, nicht praktisch für die Pension. Inzwischen ist das anders. Sie schaut besorgt auf die Stiegen, die in den ersten Stock führen. Laut Statistik stirbt in Österreich pro Woche mindestens ein älterer Mensch nach dem Sturz über eine Treppe, mehr als die Hälfte dieser Unfälle passiert in den eigenen vier Wänden.

Weniger allein fühlen

"Es sind ja nicht nur die Stiegen, sondern auch das Badezimmer, die Küche. In jedem Zimmer müsste etwas umgebaut werden. Barrierefrei wohnen – das kostet viel Geld und ist kompliziert", stellt sie fest. Der Wunsch vom Einfamilienhaus weicht der Realität. "Außerdem möchte ich auch nicht immer alleine sein. Das stell ich mir fad vor." Das höre ich meine Mutter das erste Mal sagen. "Eine Weiber-WG wäre schön, wo man zusammen Karten spielt, gemeinsam gartelt, aber jede auch ihre Ruh’ hat. Ich glaube nicht, dass man sowas in Niederösterreich findet."

Oder vielleicht doch? In Maria Roggendorf, 80 Kilometer vom Haus meiner Mutter entfernt, steht ein Bauernhof, der Christa Schwinner gehört. Sie ist Landwirtin und diplomierte Krankenpflegerin und hat auf ihrem Hof eine Wohngemeinschaft für Seniorinnen und Senioren gegründet – es ist die erste in Niederösterreich. Dort betreut sie drei Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 70 und 90 Jahren, alle mehr oder weniger pflegebedürftig.

Seniorinnen und Senioren in der WG
Die Seniorinnen und Senioren werden in der WG in Maria Roggendorf nicht nur betreut, sondern können auch selbst bei Arbeiten im Haus oder Garten mithelfen.
Anna Wielander

Einer von ihnen ist Herr Fritz. Pünktlich um 14 Uhr schlüpft er in seine Steppjacke. Der Zipp bleibt offen, in der Hand hält er eine kleine Umhängetasche. Wackelig spaziert er im Innenhof auf und ab. "Für Herrn Fritz ist jeder Tag Abreise", erzählt Schwinner. "Die Bewohner wissen, dass Herr Fritz dement ist", fügt sie hinzu. Aber es sei in der Gruppe kein Problem, die anderen würden gut mit ihm klarkommen.

Im nächsten Monat wird eine weitere Frau in die WG ziehen, insgesamt gibt es Platz für neun Personen. Jeder Einzug ist ein Wagnis. Mit wem werde ich zusammenwohnen? Werden wir uns verstehen? Kann ich meine gewohnte Umgebung wirklich zurücklassen? Die Bewohner kennen diese Ängste gut. Doch sie alle teilen den Wunsch, im Alter nicht allein sein zu wollen.

Spiel
"Mensch ärgere Dich nicht" ist auch in Maria Roggendorf ein großer Hit.
Anna Wielander

Schwinner hat diese Lücke gesehen. "Es gibt natürlich bereits Betreuungsformen wie die mobile Pflege oder die 24-Stunden-Pflege, die funktionieren können. Aber mir fehlt da etwas dazwischen." Zahlen der Statistik Austria zeigen: Im Jahr 2040 könnten fast ein Drittel aller Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher über 65 sein. Viele von dieser Altersgruppe wohnen schon jetzt in Einpersonenhaushalten – Tendenz steigend. "Darüber scheint sich nur niemand Gedanken zu machen."

Schwinner kann ihre Kritik nicht ganz verstecken. Der Bau der Senioren-WG wurde mit privaten Mitteln finanziert, Geld vom Land hätte man nur über einen befugten Wohnbauträger bekommen. "Obwohl wir ähnliche Auflagen erfüllen wie das betreute Wohnen, gibt es für uns kein Fördermodell", fügt sie hinzu.

Zu etwas gut sein

Für Schwinner ist die Wohngemeinschaft ein "Ort, wo sich die Menschen gebraucht fühlen". Die Seniorinnen und Senioren werden hier nicht nur betreut, sondern können auch selbst in der Küche, im Garten oder bei anderen Arbeiten im Haus helfen. Eine Bewohnerin kommentiert: "Wir sind halt doch no zu wos guad." Sie blickt Richtung Tür und zeigt auf Herrn Fritz, der schon wieder auf dem Sprung ist. Er winkt seinen Mitbewohnern zum Abschied zu. "Schöne Reise, Fritz!", rufen die anderen im Chor. "Wann kommst du denn wieder zurück?"

Wie viele Menschen möchte auch meine Mama am liebsten an dem Ort alt werden, wo sie aufgewachsen ist und die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat. "Dort, wo ich hingehöre", nennt sie es. Sie könne sich vorstellen, ihr Haus zu verlassen, aber nicht das Waldviertel.

Pionierprojekte wie Maria Roggendorf sind allerdings selten in Niederösterreich. Der Soziologe Hannes Heissl, der den Aufbau der Senioren-WG begleitet hat, sieht hier noch Luft nach oben. "Es muss nicht immer eine WG sein. Auch Mehrgenerationenhäuser sind eine Möglichkeit – oder ein multifunktionales Dorfhaus mit Pflegestützpunkt."

Bett Hilfe
"Es muss nicht immer eine WG sein. Auch ein multifunktionales Dorfhaus mit Pflegestützpunkt kann eine Möglichkeit sein", sagt der Soziologe Hannes Heissl.
Anna Wielander

Wichtig sei, dass Lösungen gefunden werden, die gemeinschaftlich orientiert sind. "Denn die Eins-zu-eins-Pflegebetreuung ist ein Auslaufmodell", sagt Heissl. Das hat vor allem zwei Gründe: Die Gehaltsunterschiede zwischen Österreich und den Hauptherkunftsländern der Betreuerinnen und Betreuer verringern sich laufend. Sie sind längst nicht mehr hoch genug, um auch noch in einigen Jahren eine ausreichend große Anziehungskraft auszuüben. Und: Auch die Betreuerinnen sind dem demografischen Wandel unterworfen: Das heißt, immer mehr ältere Menschen stehen weniger jüngeren gegenüber.

Mitbewohnerin gesucht

Heissl appelliert, sich früh genug Gedanken zu machen, wie das Leben im Alter aussehen soll. Das sei Aufgabe jedes Einzelnen, aber auch der Politik, die, wie er fordert, "die Wahrheit sagen muss". Jahrzehntelang habe man Familien das Eigenheim als bestmögliche Altersvorsorge verkauft. "Ganz so einfach ist es aber nicht", betont Heissl, vor allem wenn es darum geht, den Lebensabend im eigenen Zuhause verbringen zu wollen.

Befindet sich das Haus im Ortskern mit Nahversorgern in der Nähe, dann sei das grundsätzlich möglich. Die meisten Einfamilienhäuser in Niederösterreich liegen allerdings in Streulage. Hier könne man zwar verkaufen oder vermieten, stehe aber dann wieder vor dem Problem, ein altersgerechtes Wohnumfeld suchen zu müssen. "Altersvorsorge ist eben nicht gleich Alterswohnsitz", stellt Heissl klar.

Kalender Sprüche
Jeder Einzug ist ein Wagnis: Mit wem werde ich zusammenwohnen? Werden wir uns verstehen?
Anna Wielander

Meine Mutter und ich sind inzwischen auf Facebook gelandet. Zusammen scrollen wir durch die Timeline der Gruppe "Gemeinsam Wohnen im Alter", die mehr als 10.000 Mitglieder aus Österreich und Deutschland hat. Fast täglich gibt es neue Postings. Eine Userin schreibt zum Beispiel: "Suche eine Mitbewohnerin für meinen alten, aber schönen Bauernhof." Eine andere fragt um Rat: "Ich möchte gerne mit drei Freundinnen zusammenziehen. Wir sind im Alter zwischen 55 und 65 Jahren. Welche Wohnform wäre ideal?"

Der "alte, aber schöne" Bauernhof gefällt meiner Mutter nicht. "Zu viel Arbeit", sagt sie. Sie scrollt trotzdem weiter, stoppt immer wieder mal, liest, scrollt. Dann blickt sie auf und sagt erstaunt: "Ich bin ja gar nicht alleine." (Anna Wielander, 24.2.2024)