Mati Diop gewinnt für
Mati Diop gewinnt für "Dahomey" den Goldenen Bären. Palästinensertücher, wie das des Regisseurs Ben Russell (r.) gab es einige auf der diesjährigen Gala.
EPA/CLEMENS BILAN

Wir hatten immer temperamentvolle Diskussionen“, sagte eine glitzernde Jurypräsidentin Lupita Nyong’o. Wahrscheinlich deshalb, weil sich in dem mediokren Berlinale-Wettbewerb, wieder einmal kaum Glanzstücke befanden. Dafür durfte sich schon beim ersten Preis der österreichische Kameramann Martin Gschlacht freuen. Für seine erdigen Bilder im Veronika Franz‘ und Severin Fialas‘ Historienthriller Des Teufels Bad erhielt er den Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung.

Martin Gschlacht mit Veronika Franz und Severin Fiala. Für
Martin Gschlacht mit Veronika Franz und Severin Fiala. Für "Des Teufels Bad" gewann der Kameramann einen Silbernen Bären.
AP/Nadja Wohlleben

Hauptpreis wieder an Dokumentation

Den Hauptpreis des Abends, den Goldenen Bären, erhielt wie letztes Jahr eine von Arte produzierte Dokumentation. Diesmal aber eine, die sich nicht nur auf die Seine in Paris, sondern von dort aus auf einen anderen Kontinent wagte. Die senegalesisch-französische Filmemacherin Mati Diop verfolgt in "Dahomey" die Reise von afrikanischen Kunstartefakten, die ihren Rückweg in ihre Ursprungsländer antreten.

Dort finden sie sich dann wieder in verschiedenen Interessenlagen, zwischen Nationalstolz und dem Versuch, durch Diskussionen Partizipation und Differenzierung herzustellen. "Zurückzugeben heißt, Gerechtigkeit zu üben", sagte Diop, als sie den Bären entgegennahm, bevor sie sich mit der Demokratie-Bewegung im Senegal sowie mit Palästina solidarisierte.

Angeblich hat Jurypräsidentin Lupita Nyong‘o (r.) beim Preis an Mati Diops Doku
Angeblich hat Jurypräsidentin Lupita Nyong‘o (r.) beim Preis an Mati Diops Doku "Dahomey" ein Machtwort gesprochen.
AFP/POOL/NADJA WOHLLEBEN

Absage ans große Erzählkino

Der Gaza-Krieg war zwar Hauptthema des Abends, nicht aber während der Preisvergaben an die Wettbewerbsfilme, die eine Absage an großes Erzählkino erteilten. Das sah man insbesondere an den Jury-Bären für die (teils parodistischen) Fingerübungen von Autorenfilmern wie Hong Sangsoo (A Traveler’s Needs) und Bruno Dumont (L’Empire). Auf der Bühne ließ Dumont sein Handy ein naives Plädoyer gegen Repräsentation verlesen: "Ein Kinofilm hat kein Geschlecht, ein Kinofilm hat keine Hautfarbe." Wohl ein Seitenhieb auf Adèle Haenel, die aus der Science-Fiction-Persiflage ausstieg, weil sie ihr zu sexistisch war.

Auch den Regie-Bären für Nelson Carlos De Los Santos Arias‘ Essayfilm "Pepe" über sprechende Nilpferde zwischen Südamerika und Afrika konnte man als Jury-Plädoyer gegen die klassische Kinoerzählung lesen. Diesem Trend hielt nur der deutsche Regisseur Matthias Glasner stand, der sich – völlig verdient – über den Drehbuch-Preis über sein exzessiv erzähltes, dreistündiges Familiendrama Sterben freuen durfte. Inspiriert habe ihn zu der sehr persönlichen Geschichte seine fünfjährige Tochter, die zu ihm sagte: "Du musst auf dein Herz hören!" Überreicht wurde ihm der Silberne Bär vom ukrainischen Jurymitglied Oksana Zabuzhko, die am Jahrestag der russischen Invasion an den Überlebenskampf ihres Landes erinnerte.

Der rumänischstämmige US-Schauspieler Sebastian Stan gewinnt für seine Hauptrolle in
Der rumänischstämmige US-Schauspieler Sebastian Stan gewinnt für seine Hauptrolle in "A Different Man" den Schauspielpreis.
AFP/POOL/NADIA WOHLLEBEN

Schwierigkeiten, auf sein Herz zu hören, hat Edward in Aron Schimbergs "A Different Man". Sebastian Stan mimt den Möchtegern-Schauspieler, der anfangs unter seinem entstellten Gesicht leidet, später aber davon geheilt wird, aber dennoch keinen Trost findet. Der Preis für die beste Nebenrolle ging an Emily Watson, die im Eröffnungsfilm "Small Things Like These" neben Cillian Murphy eine strenge, überaus korrupte Klosterschwester in einem irischen Magdalenenheim spielt. Sie nahm den Preis mit Krücken und den Worten entgegen, dass sie aufgeregt sei, weil sie selten in der Gegenwart so vieler wütender, junger Filmemacher sei.

Kritik an Israel, Schweigen zur Hamas

"Für einige Menschen ist das Leben gerade nicht einfach", sagte der scheidende künstlerische Leiter der Berlinale Carlo Chatrian zu Beginn der heurigen Preisgala - wie gewohnt ausweichend. Gemeint waren damit auch die Menschen in Palästina, in deren Situation der Panorama-Film "No Other Land" wie kein anderer Einblick gewährte. Dieser Film gewann denn auch den Dokumentarfilmpreis.

"No Other Land" zeigt die schwierige Situation in einem Dorf im Westjordanland. Der palästinensische Aktivist Basel Adra und der israelische Journalist Yuval Abraham filmten die dortige Situation über mehrere Jahre hinweg. Die genau beobachtende Dokumentation zeuge vom "Horror der israelischen, illegalen Okkupation" im Westjordanland, begründete das französische Jurymitglied Véréna Paravel den Preis.

Das Regie-Duo von
Das Regie-Duo von "No other Land": Der Israeli Yuval Abraham (l.) und der Palästinenser Basel Adra.
AFP/JOHN MACDOUGALL

Es sei hart für ihn, den Preis zu feiern, während tausende seiner Landsleute "abgeschlachtet" würden, sagte Regisseur Basel Adra und forderte Deutschland auf, Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Ko-Regisseur Yuval Abraham betonte die systemische Ungleichheit zwischen ihm und seinem palästinensischen Kollegen. Er lebe in einem "Apartheid-Staat". "Wir stellen die Frage, wie wir etwas verändern können. Wir auch haben keine wirkliche Antwort. Aber es sind eine Menge mächtige Menschen in diesem Raum und wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand." Das wichtigste Statement dieses Films ist aber die Zusammenarbeit des jüdisch-arabischen Regie-Kollektivs über die Grenzen hinweg.

Mehrere Preisträger und Preisträgerinnen wiederholten diese Solidaritätsaufrufe in ihren Dankesreden oder mit Aufnähern und Palästinensertüchern - die Gräueltaten der Hamas blieben indes unerwähnt. So auch die Encounters-Preisträger Guillaume Cailleau und Ben Russell, die für die deutsch-französische Koproduktion "Direct Action" ausgezeichnet wurden. Den Preis nahmen sie von der Südtirolerin Tizza Covi entgegen.

Die Gewinner des Encounters-Wettbewerbs: Ben Russell und Guillaume Cailleau, die in
Die Gewinner des Encounters-Wettbewerbs: Ben Russell und Guillaume Cailleau mit Team, die in "Direct Action" eine Aktivisten-Kommune porträtierten.
REUTERS/NADJA WOHLLEBEN

Friedenspreis an "Favoriten"

Die jüdische Jurorin Eliza Hittman erinnerte an ihren pazifistischen Großvater und sein Credo "Es gibt keinen gerechten Krieg", bevor sie den Preis für den besten Erstlingsfilm an "Cu Li Never Cries" von Pham Ngoc Lan verlieh. Der unabhängige Friedensfilmpreis ging indes an Ruth Beckermanns Schulporträt "Favoriten".

Auf dem roten Teppich zog nicht nur Lupita Nyong'o die Blitzlichter auf sich, sondern auch Tricia Tuttle, die zukünftige Leiterin der Berlinale. Mariette Rissenbeek hieß diese im Saal herzlich willkommen und wünschte der künftigen Spitze viel Glück. Dieses kann Tuttle gut brauchen. Wichtig wäre aber vor allem, dass sie den Hauptwettbewerb des Festivals wieder aufwertet, denn die interessantesten, zeitgeistigsten Filme liefen heuer wieder einmal in den Nebensektionen. Carlo Chatrian freut sich unterdessen schon auf ein Wiedersehen - als Zuschauer inmitten des Publikums. (Valerie Dirk, Marian Wilhelm, 24.2.2024)