Die Huawei Freeclip sind die neuen Flaggschiffe im Ohrhörer-Segment des chinesischen Tech-Konzerns.
Zellinger

Am Anfang steht die Ratlosigkeit: Wie trägt man die Huawei Freeclip eigentlich? Werden sie an den Knorpel vor dem Gehörkanal geklemmt? Oder ans Ohrläppchen? Sind das überhaupt noch Earbuds, wenn sie nicht in den Gehörgang gesteckt werden? Der erste Kontakt mit den Freeclip von Huawei wirft Fragen auf, die sonst bei keinem Audiotest vorkommen. Und warum sehen die Dinger überhaupt aus wie Wäscheklammern?

Ein wildes Konzept

Um die richtige Trageweise der Freeclip zu beschreiben, braucht man schon fast einen Anatomieatlas: Huaweis neueste Ohrhörer werden von hinten auf das Ohr geklemmt, sodass die sogenannte Akustikkugel in der Vertiefung vor dem Gehörgang liegt. Der größere ovale Teil sitzt hinter dem Ohr. Das sieht beim ersten Versuch nicht nur komisch aus, es fühlt sich anfangs auch so an, fast als würde man einen ausgefallenen Ohrschmuck tragen. Die Verwunderung währt aber nur kurz, schon nach wenigen Augenblicken hat sich das Testerohr an die ungewöhnlichen Earbuds gewöhnt. Das dürfte auch am äußerst geringen Gewicht von nur 5,5 Gramm liegen. Damit liegt die Huawei-Wäscheklammern gleichauf mit den Earpods Pro von Apple und unter der Konkurrenz von Sonys WF-1000XM5 mit 5,9 Gramm. Mit Ladeschale und beiden Ohrhörern bringen die Freebuds auch nur 55,6 Gramm auf die Waage und sind damit die leichtesten Vertreter ihrer Art in der Testgeräte-Lade des STANDARD.

Huawei nennt die eigentümliche Formgebung übrigens C-Bridge-Design. Laut dem chinesischen Tech-Giganten sind die Freeclip aus einer "hochleistungsfähigen Nickel-Titan-Formgedächtnislegierung" gefertigt. Beim ersten Angreifen fühlt sich das Material aber eher nach gummiertem Plastik an. Tatsächlich lässt sich das Verbindungsstück zwar in alle Richtungen biegen, springt aber sofort in die Form zurück. Man muss sich also keine Sorgen machen, dass man die Freeclip beschädigt, wenn man sich einmal aus Versehen draufsetzt.

Auch das Lade-Case ist aus Plastik, aber mit einer raueren Oberfläche. Gut so, denn die andere Vertreter wie das Earpod-Case mit Hochglanzlackierung neigt ohnehin dazu, aus der Tasche zu rutschen. Hochglanz sind bei Huawei nur die Audiokugel sowie die Rückseite, die sich beide erstaunlich resistent gegenüber Finger- und Fettschmierern erwiesen. Das C-förmige Design hat noch einen Vorteil: Den Freeclip ist es nämlich egal, ob sie über dem linken oder dem rechten Ohr getragen werden. Die Software der Ohrstöpsel erkennt, auf welcher Seite sie getragen werden, und tauscht die Stereokanäle entsprechend. Cool.

Mit einem Plopp sind sie im Ohr

Dennoch ist die Skepsis anfangs noch vorhanden: Wie bitte soll so ein Gerät funktionieren? Huawei nennt den neuen Ansatz Semi-In-Ear, also nur halb im Ohr. Herkömmliche Earbuds sind so konstruiert, dass sie möglichst fest im Ohr sitzen, Geräusche abschirmen und den Schall auf möglichst kurzem Weg zum Trommelfell bringen. Die Freeclip sitzen aber neben dem Gehörgang – bei den riesigen Ohrwaschln des Testers kommen noch einmal 2-3 Millimeter Extraabstand dazu. Und weil sich Schall bekanntlich kugelförmig ausbreitet, ist da schon noch einiger Raum vorhanden, in dem die wohligen Klänge gepflegter Heavy-Metal-Kunst entfleuchen können.

Die Freeclip werden auf das Ohr geklemmt. Die Audiokugel sowie die sogenannte Comfort Bean sorgen für ausreichend Halt bei der Co-Testerin.
Zellinger

Doch die Skepsis ist nur teilweise berechtigt: Trotz der eigenwilligen Konstruktion sitzen die Freeclip fest am Ohr, da wackelt nichts, und sie zur verlieren dürfte in etwa gleich schwer oder einfach sein wie bei der konservativer gebauten Konkurrenz. Das liegt daran das sich die Audiokugel mit einem hörbaren Ploppgeräusch in Position legt und sich am Ohr festklammert. Das klingt wilder, als es ist, jedenfalls gibt es in Sachen Tragekomfort nichts auszusetzen.

Auch die ersten klanglichen Gehversuche erweisen sich als deutlich besser als befürchtet. Auch wenn die Audiokugel nur in der Nähe des Gehörgangs liegt, klingen Huaweis neue Flaggschiff-Semi-In-Ears erstaunlich gut. Wobei man einschränkend dazusagen muss, dass die Erwartungen anfangs sehr gering waren. Denn Wunderdinge vermögen auch die Freeclip nicht zu vollbringen: Druckvolle Bässe kann es allein schon aufgrund der Form nicht geben, und extreme Höhen neigen zum breiigen Ausfransen. Insgesamt sind die Ohrhörer sehr mittenbetont abgemischt, der Sound wirkt dadurch sehr glattgebügelt. Das mag jetzt übermäßig kritisch klingen, deshalb noch einmal: Für Ohrstöpsel, die eigentlich keine sind, ist der Klang beachtlich. Nur mit High-End-Produkten wie den Sony WF-1000XM5 oder den Audio-Technica ATH-CKS50TW können sie in dieser Disziplin nicht mithalten.

Noise-Cancelling, aber anders

Nicht einmal das Huawei-Marketing hat sich getraut, den Begriff Noise-Cancelling ins Produktdatenblatt zu schummeln. Gut so, denn bauartbedingt kann es dieses Feature gar nicht geben. Dafür hat der Hersteller einen anderen Spin gefunden: Die Freebuds sind für alle, die sich nicht völlig von der Umgebung abschotten wollen, weil sie entweder Stationsdurchsagen mitbekommen möchten oder bei der täglichen Laufrunde den herannahenden Verkehr hören möchten. Schaut man sich die Features aber genauer an, dann gibt es doch eine Form der Geräuschunterdrückung, nämlich für die Umwelt. Laut Huawei sind die Freeclip nämlich so konstruiert, dass kein Schall nach außen dringt und das Hörerlebnis privat bleibt. Tatsächlich war auch mit höchster Lautstärke vom Gegenüber nur ein leichtes Säuseln zu vernehmen.

Knochenschall-Spaßettln

Dafür hat das Marketing ganze Arbeit geleistet, wenn es um die Bewerbung von angeblichen KI-Funktionen geht. Ein "Deep-Neural-Network-Algorithmus" soll Störgeräusche herausfiltern und in Telefonaten wirklich nur die Stimme des Sprechenden übertragen. Auch wenn sich die softwareseitigen Behauptungen nur schwer überprüfen lassen, so ist die Hardwareaustattung zur Stimmenaufzeichnung durchaus potent. Die Freeclip verfügen in jeder Einheit über drei Mikrofone. In der Audiokugel sitzt neben einem herkömmlichen Mikrofon auch eine Voice-Projection-Unit, die durch Knochenschall die Stimme verstärken soll. Gleichzeitig befindet sich im ovalen Teil auf der Rückseite noch ein extra windgeschütztes Mikrofon, das Telefonate und Aufnahmen auch bei schlechtem Wetter möglich machen soll.

Ob es an der KI liegt, die die Stimme des Sprechers nicht mochte, oder ob die Software doch nicht so mächtig ist wie dargestellt: Die Sprachqualität ist nicht gut. Diese Clips wurden in einem Büro aufgenommen, das auch für die Aufnahme von Podcasts verwendet wird, an der Umgebung kann es also nicht liegen, dass es ein deutliches Echo gibt. Für kurze Anrufe mag die Sprachqualität ausreichen, längere Telefonate will man in der Qualität aber wahrscheinlich eher nicht führen.

Die Bedienung

Dafür gibt sich Huawei bei der Bedienung der Freeclip keine Blöße: Wo andere absurde Tipp-Abfolgen für die Bedienung fordern, geben sich die Premium-Stöpsel aus China vorbildlich: Ein Doppeltipp reguliert die Lautstärke, ein Dreifachtipp springt zum nächsten Song. Besonders cool: Es ist völlig egal, wo man die Hörer berührt, sie reagieren auf Touch-Eingaben. So lassen sich die Ohrhörer mit Tippern auf die Audiokugel, das Verbindungsstück und die Comfort Bean genannte Rückseite steuern. Kein zielloses und unwürdiges Tasten nach den touchsensitiven Zonen mehr, sehr schön. Ach ja, dank Mulitpoint lassen sich die Hörer mit zwei Geräten verbinden. Außerdem sind die Freeclip gegen Staub und Spritzwasser geschützt (IP54). Unterstützt werden die Audiocodecs SBC, AAC, L2HC und LC3.

Geht es nach Huawei sind die Freeclip nicht nur Ohrhörer, sondern auch ein modisches Statement.
Huawei

Auch die Akkulaufzeit können die Freeclip auf der Habenseite verbuchen. Trotz der extraleichten Bauweise reicht eine Ladung für knapp acht Stunden Wiedergabe aus. In jedem Kopfhörer ist ein 55 Milliamperestunden großer Akku verbaut. Das Lade-Case liefert noch einmal 510 Milliamperestunden, was insgesamt für 36 Wiedergabestunden reichen soll. Mit dem Lade-Case sind die Kopfhörer in 40 Minuten geladen. Die Hülle selbst lässt sich auch kabellos aufladen.

Fazit: Nichts für Bassfetischisten

Die Freeclip sind für jene, die beim Sport gerne noch ihre Umwelt wahrnehmen, bei der Gartenarbeit noch ihren Partner hören oder keine Haltestelle verpassen möchten, weil sich in ihrem Kopf gerade eine imaginäre Festivalbühne aufbaut. Kurz: Für vernünftige, verantwortungsbewusste Leute und nicht für Menschen wie mich, die es genießen, wenn eine Doublebass-Drum mit 200 bpm einen bleibenden Eindruck am Trommelfell hinterlässt. Das heißt nicht, dass die Freeclip schlecht klingen, sie schlagen sich trotz der Open-Ear-Bauweise sogar deutlich besser, als ich erwartet hätte. Zwei Mankos trüben den guten Gesamteindruck aber: Die Sprachqualität ist gerade noch so mit Prädikat "brauchbar" zu versehen. Für Android-User kommt noch das zwangsweise Sideloading der AI-Life-App von Huawei dazu, denn erst mit der App kann man auf einen Equalizer zugreifen.

Dann wäre da noch der Elefant im Raum, der Preis. Der fällt mit 200 Euro meiner Meinung nach zu hoch aus, auch wenn es sich um die neue Premium-Linie von Huawei handelt, schließlich gibt es die guten Freebuds Pro 2 aus gleichem Hause mittlerweile um die Hälfte des Preises. Wer ein Fashion-Statement sucht oder mit In-Ear-Hörern nicht zurechtkommt, der kann mit den Freeclip sicher glücklich werden. (Peter Zellinger, 2.3.2024)