Uni-Stiege
Im Jahr 1974 gründeten angehende Volkswirte den Roten Börsenkrach an der Uni Wien, seither durchlebte die Gruppe eine bewegte Geschichte.
Heribert Corn

Der Bundespräsident schwärmte noch Jahrzehnte später von seinen einstigen Gegenspielern. Mit den Leuten vom Roten Börsenkrach zu streiten sei ebenso herausfordernd wie vergnüglich gewesen, schrieb Alexander Van der Bellen in persönlichen Erinnerungen an seine akademische Karriere. Bevor der heutige Staatschef im Jahr 1994 grüner Nationalratsabgeordneter wurde, lehrte er 15 Jahre als Professor für Volkswirtschaftslehre (VWL) an der Universität Wien und stand als Dekan zeitweise an der Spitze der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.

Mit den kritischen Studierendenvertretern vom Roten Börsenkrach – kurz RBK – musste Van der Bellen in diesen Rollen naturgemäß die eine oder andere Reiberei austragen. Missen wollte er sie trotzdem nicht, habe doch die studentische Lobbyarbeit am VWL-Institut so manchen professoralen Machtrausch zu Recht verhindert. Mit Blick auf die anderswo grassierenden universitären Missstände habe ihn bisweilen ein frecher Gedanke in Richtung der dortigen Professoren erfasst. "Mit einem RBK, liebe Kollegen, könntet ihr euch das nicht leisten. Schade, dass ihr keinen RBK habt."

Basisdemokratie ohne Chefs

Das ist lange her, die Ökonomen der Uni Wien haben inzwischen mehrmals das Institutsgebäude gewechselt und residieren nun seit einigen Jahren neben der Rossauer Kaserne in einem steril anmutenden Hochhaus am Oskar-Morgenstern-Platz. Den Roten Börsenkrach gibt es aber noch immer, bei den ÖH-Wahlen 2023 gingen sämtliche fünf Mandate in der Studienvertretung an Aktivistinnen und Aktivisten des RBK. Während des Semesters findet im RBK-Büro jede Woche ein offenes Plenum statt, dort werden Probleme mit Lehrveranstaltungen diskutiert, Feste geplant, politische Aktionen vorbereitet und die methodische Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaft hinterfragt. Oder einfach nur ziellos geplaudert.

Momentan kramen die Börsenkrachler gerne in den eigenen Archiven, die nunmehr genau ein halbes Jahrhundert zurückreichen: Heuer steigt nämlich das 50-Jahr-Jubiläum des Roten Börsenkrach, der sich den Status als "älteste noch existierende Basisgruppe der Uni Wien" auf die Fahnen heftet.

"Das wesentliche Element einer Basisgruppe ist, dass wir eine offene Gruppe sind, die Entscheidungen basisdemokratisch im Konsens trifft", sagt Jonas Grundnig. Der Bachelorstudent engagiert sich beim Börsenkrach, Bezeichnungen wie "RBK-Funktionär" oder gar "RBK-Chef" seien in einer Basisgruppe aber fehl am Platz, erklärt der 22-Jährige: "Wir haben keine formalen Machtstrukturen, alle VWL-Studierenden können jederzeit ins Plenum kommen und gleichwertig mitbestimmen."

Roter Börsenkrach 2024
Jede Woche veranstaltet die Basisgruppe ein offenes Plenum in der "Schildburg", ihrem Büro an der Wirtschaftsfakultät der Uni Wien. Der RBK stellt derzeit auch alle gewählten ÖH-Studienvertreter im Fach Volkswirtschaftslehre.
Roter Börsenkrach

Links, aber unabhängig

In der Gründungsphase des Roten Börsenkrach waren basisdemokratische Uni-Gruppen ein Zeichen des antiautoritären Aufbruchs, sie verkörperten den Drang nach mehr studentischer Mitbestimmung gegen die Anmaßungen der herrschenden Kaste verbeamteter Professoren. Obwohl die 1968er-Bewegung samt Studentenprotesten in Österreich – verglichen mit Frankreich oder Westdeutschland – mickrig ausfiel, stieg auch hierzulande der Druck für eine Öffnung und Demokratisierung der Unis. Mit der großen Hochschulreform unter der SPÖ-Alleinregierung von Bruno Kreisky wurden Teile dieser Forderungen dann 1975 auch tatsächlich umgesetzt: Studierende durften fortan etwa bei Berufungen und Curricula mitstimmen.

Trotz der suggestiven Farbe im Namen war der RBK aber nie eine sozialistische Parteiorganisation, betont Peter Rosner, der als junger Doktorand 1974 maßgeblich an der Gründung der Gruppe beteiligt war und später VWL-Professor an der Uni Wien wurde. "Ich habe den Namen erfunden, weil ich überraschende Wortkombinationen immer mochte", sagt Rosner zum STANDARD. Er und seine Mitstreiter seien zwar alle politisch links gewesen, doch weder habe man sich SPÖ oder KPÖ verschrieben noch mit den umtriebigen maoistischen Studentenfraktionen angebandelt: "Wir waren schon am Marxismus interessiert, aber wir haben uns keiner Ideologie fix verbunden gefühlt."

Das wichtigste Motiv für die RBK-Gründung sei vielmehr gewesen, "dass das Studium so grottenschlecht war", erinnert sich Rosner. Dazu muss man wissen: Die damaligen VWL-Lehrpläne hatten aus der heutigen Sicht wenig mit einem richtigen Ökonomiestudium zu tun: In den ersten Semestern standen hauptsächlich juristische und staatswissenschaftliche Prüfungen auf dem Programm, während ökonomische Theorien und quantitative Methoden eine bloße Randerscheinung bildeten. Von modernen mathematisierten Modellen, die in der internationalen Forschung längst etabliert waren, wollten die meisten österreichischen Professoren nichts wissen und schotteten sich im Geiste eines konservativen Provinzialismus ab.

Zeitung mit Wirkung

Zum zentralen Werkzeug des Roten Börsenkrachs entwickelte sich die gleichnamige Zeitung, die in der Frühphase mitunter wöchentlich erschien und druckfrisch an der Fakultät verteilt wurde. Unter den eifrigsten Autoren fand sich der junge Vorarlberger Ernst Fehr, der heute als Verhaltensökonom dank seiner Experimente zur Bedeutung sozialer Normen für wirtschaftliches Handeln weltweites Renommée genießt und regelmäßig als Nobelpreiskandidat kolportiert wird. Beim Börsenkrach habe er verständlich zu schreiben gelernt, erinnerte sich Fehr später einmal.

1977 provozierte die Zeitung einen Eklat. Ein deutscher Volkswirt redete sich im Interview mit dem Studentenblatt um Kopf und Kragen, verstieg sich zu homophoben Aussagen über den großen britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946). Die vor dem Interview als fix geltende Berufung des Deutschen auf eine Professur in Wien wurde nach empörten Reaktionen kurzerhand abgeblasen – mit den Schlagworten "woke" und "Cancel-Culture" fuhrwerkte noch niemand.

Kritik und Weltverbesserung

Der schriftstellerische Output der Altvorderen ringt den aktuellen Börsenkrachlern Respekt ab: "Es ist beachtlich, wie oft sie in den 1970er-Jahren Zeitungen herausgebracht haben. Derzeit bemühen wir uns, dass wir eine Ausgabe pro Jahr schaffen, und das ist schon viel Arbeit", sagt Jonas Grundnig.

Dafür kamen über die Jahre neue Aufgaben hinzu – so ist der RBK federführend an den "Selbstorganisierten Lehrveranstaltungen" beteiligt, die jedes Semester am VWL-Institut als offizielles Wahlfach angeboten werden. Die Studierenden überlegen sich die Themen und den Ablauf der Kurseinheiten selbst und können externe Vortragende in die Veranstaltungen laden. Im anlaufenden Sommersemester wird es um "Economics of Happiness" gehen.

In den eigenen Themenschwerpunkten macht sich die Skepsis bemerkbar, mit der die Vertreter des Roten Börsenkrachs auf die sogenannte Mainstream-Ökonomie blicken. Plakativ zusammengefasst: Der im wirtschaftswissenschaftlichen Betrieb dominante Ansatz sei zu formal und abstrakt, politisch uninformiert und neige zur unterschwelligen Apologie des Kapitalismus. Grundnig sagt: "Als RBK haben wir einen Anspruch zur Weltverbesserung und wollen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, das kommt im Studium zu kurz."

Karriere und Kohle

Gründervater Peter Rosner hat schon einige RBK-Generationen so reden gehört und hegt nach wie vor eine gewisse Sympathie dafür, stellt allerdings fest: "Das Lustige ist, dass viele Leute in ihrer Zeit beim Roten Börsenkrach alternative ökonomische Ansätze gefordert haben, dann aber im Mainstream erfolgreiche Laufbahnen hingelegt haben." Einige gelangten auf Professuren in Deutschland, Gertrude Tumpel-Gugerell machte als Notenbankerin im Direktorium der Europäischen Zentralbank Karriere. Andere wurden am Finanzmarkt reich, insbesondere der Investmentbanker Wilhelm Hemetsberger, dessen Spitzname "roter Willi" noch auf seine einschlägige Vergangenheit verweist. Auch Ernst Fehr, der als Student Marx-Lesekreise organisierte, dürfte mit der Beratungsagentur Fehr Advice zu einem Vermögen gelangt sein.

Ein aufmüpfiges Vorleben als RBK-Studierendenvertreter ist jedenfalls auch kein Ausschlussgrund, um an der Uni Wien zu hohen Posten zu gelangen. Wie der STANDARD erfahren hat, wird der bisher in Mannheim lehrende Österreicher Harald Fadinger im September die vakante Professur für Makroökonomik antreten. Vor einem Vierteljahrhundert zeichnete Fadinger noch für so manche Gemeinheit in RBK-Zeitungen verantwortlich – bald könnte er ebendort von seinen aktivistischen Nachfolgern durch den Kakao gezogen werden. (Theo Anders, 12.3.2023)