Eisberge vor kanadischer Küste
Das arktische Eis geht rasant zurück und könnte bald ein neues Rekordminimum erreichen.
imago stock&people

In Österreich ist es frühlingshaft warm – auf extremem Niveau. Der Winter war mit drei Grad mehr als im Durchschnitt von 1991 bis 2000 so warm wie nie in der Messgeschichte. Der Februar war milder als ein durchschnittlicher März, in Wiener Neustadt wurde sogar der Rekordwert für März übertroffen. Weltweit sorgt das Klimaphänomen El Niño weiterhin für Höchstwerte, insbesondere die hohen Meerestemperaturen bereiten Fachleuten Sorgen. In der Arktis könnte es bald so wenig Eis geben wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Sie erhitzt sich etwa viermal so schnell wie die Erde insgesamt.

Ende September ist die arktische Eisfläche am kleinsten. Schon ab 2035 könnte die Arktis in diesem Monat eisfrei sein, wie eine Studie im Fachjournal "Nature Reviews Earth & Environment" zeigt. Eisfrei, das bedeutet: weniger als eine Million Quadratkilometer Meereis. So groß ist etwa die Fläche Ägyptens. Das entspricht außerdem weniger als 20 Prozent des saisonalen Minimums in den 1980er-Jahren. Gemessen wird die Meereisbedeckung seit 1978 per Satelliten.

Drei Karten der Arktis zeigen das Ausmaß von 5,5 Millionen Quadratkilometer Meereis, 3,3 Millionen und weniger als eine Million im Vergleich an.
Eis am Nordpol: Bei weniger als einer Million Quadratkilometer Eisfläche hat nur mehr ein relativ kleiner Teil nördlich des Polarkreises eine hohe Meereiskonzentration.
Jahn et al., Nature Reviews Earth & Environment 2024

Wie Alexandra Jahn von der University of Colorado Boulder mit zwei Kolleginnen schreibt, können die frühesten Einzelmessungen einer eisfreien Arktis schon in den 2020er- und 2030er-Jahren vorkommen. Der erste eisfreie Tag in der Arktis könne damit zehn Jahre früher als gedacht kommen. Das passiert unabhängig davon, ob die Treibhausgasemissionen ab jetzt hoch oder niedrig sind.

Kühleffekt der weißen Farbe

Auf eine eisfreie Arktis ab 2035 deutete bereits eine koreanische Studie hin, die im vergangenen Sommer erschien. Bei der neuen Veröffentlichung handelt sich um einen Review-Artikel, die Forscherinnen werteten also Daten mehrerer Fachstudien aus, um so zu besonders aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen.

Dass sich die Arktis so schnell erwärmt, hat mit der Farbe des Eises zu tun. Das Weiß des schneebedeckten Eises reflektiert bis zu 90 Prozent des Sonnenlichts. Die von oben betrachtet dunkle Wasseroberfläche hingegen nimmt mehr als 90 Prozent der Sonnenenergie auf und strahlt nur etwa sechs Prozent des Lichts zurück. So wird das Wasser wärmer und fördert wiederum von unten das Abschmelzen des Eises. Je kleiner also die Eisfläche ist, desto schneller heizt sich die Arktis weiter auf. Die Helligkeit und damit das Ausmaß, in dem Sonnenlicht reflektiert wird, nennen Fachleute Albedo.

Der Studie zufolge ist zwischen 2035 und 2067 damit zu rechnen, dass in der Arktis im September durchwegs eisfreie Bedingungen vorherrschen. Das gilt für weiterhin hohe Emissionen, genauer: ab einer globalen Durchschnittstemperatur von 1,8 Grad über dem vorindustriellen Niveau. 2023 war es im Mittel um 1,48 Grad wärmer, ab 2025 könnte der Jahresdurchschnitt zunächst aber wieder zurückgehen, weil El Niño wieder abflaut.

Wandel in der Natur

Selbst wenn wir jetzt deutlich weniger CO2 und andere Treibhausgase ausstoßen würden, könnte das eisfreie Tage in der Arktis nicht ganz verhindern. Die Menge an Emissionen beeinflusst aber, wie oft und wie lange das Eis fehlt. Das zeigt der Vergleich der Klimamodelle. Szenarien mit eher geringen Emissionen würden für jährlich drei eisfreie Monate zum Ende des Jahrhunderts sorgen. Hohe Emissionen hätten zur Folge, dass die Arktis für ein halbes Jahr am Stück nur mehr wenig Eis hat. Bis zu neun eisfreie Monate pro Jahr seien den Modellen zufolge bis 2100 möglich. Die hohen Treibhausgasemissionen sind der Hauptgrund, weshalb das Meereis zurückgeht, wie Studienautorin Jahn betont.

Eisbärmutter mit Jungtier auf Felsen
Eisbärmutter mit Jungtier im Norden Kanadas. Der Lebensraum der größten Landraubtiere geht stark zurück, weil das Meereis schwindet.
AFP/OLIVIER MORIN

Das hat verheerende Konsequenzen für die Lebewesen der Arktis. Am stärksten sichtbar sind sie bei den Säugetieren der Polarregion. Der Eisbär ist das größte Landraubtier der Welt, wie Robben ist er für die Jagd auf das Meereis angewiesen. Von den 75 arktischen Säugetierspezies leben 16 auf oder unter dem Eis. Ihr Lebensraum geht mit dem Meereis stark zurück.

Weil in anderen Regionen das Meer ebenfalls wärmer wird, wandern viele Arten in Richtung der Polarregionen, um bei ihrer Wohlfühltemperatur zu bleiben. Das heißt auch, dass neue Fischspezies in die Arktis kommen und dort als invasive Arten die Ökosysteme auf noch unklare Weise beeinflussen dürften. Auch Menschen, die nördlich des Polarkreises leben, werden die Veränderungen zu spüren bekommen. Weil Meereis die Küsten vor Wellen schützt, ist dort mit mehr Erosion und höheren Wellen zu rechnen.

Verkehr und Bodenschätze

Der Eisverlust beginnt im europäischen Bereich der Arktis, dann folgt der Rückgang im Nordpazifik. Weil sich unter dem arktischen Eis im Gegensatz zur Antarktis keine Landmasse verbirgt, würde das Schwinden des Eises den Weg freimachen für Schifffahrt – für reguläre Schiffe, nicht nur für Eisbrecher. Daran ist vor allem Russland interessiert. Wladimir Putin bezeichnete den Ausbau der nördlichen Seewege als "eine der offensichtlichen strategischen Prioritäten". Aber auch China sieht neue Möglichkeiten für Warentransporte über die Arktis.

Wirtschaftlich interessieren auch die Reserven an Erdöl und Erdgas, die mit dem Abtauen besser zugänglich werden: Es geht um etwa 13 Prozent der Erdöl- und 30 Prozent der Erdgasreserven, die bisher unerschlossen sind. Angesichts der fortschreitenden Erwärmung ist die Gewinnung dieser fossilen Energieträger ein besonders heikles Thema. Militärisch dürfte die Region ebenfalls eine wichtigere Rolle als bisher einnehmen.

Russischer Eisbrecher am Nordpol
Nicht nur Eisbrecher könnten künftig Waren über die nördlichen Seewege transportieren.
AFP/EKATERINA ANISIMOVA

Arktisches Meereis kann immerhin schnell zurückkehren, wenn sich die Atmosphäre abkühlt – im Gegensatz zu den Eisschilden Grönlands, die sich über Jahrtausende aufgebaut haben, erklärt Klimawissenschafterin Alexandra Jahn: "Selbst wenn wir das gesamte arktische Meereis schmelzen, könnte es innerhalb eines Jahrzehnts zurückkehren, wenn wir herausfinden, wie wir das CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen können, um die Erwärmung umzukehren."

Dies wird aber immer schwieriger. Die Arktis heizt sich immer stärker auf, die CO2-Konzentration in der Luft steigt weiter an, und mit Wäldern wird das beste Mittel, um CO2 aus der Luft zu nehmen, gerodet. Die Szenarien mit hohen Emissionen "würden die Arktis in eine völlig andere Umgebung verwandeln, von einer weißen Sommerarktis zu einer blauen Arktis", sagt Eisforscherin Jahn. (Julia Sica, 5.3.2024)