Bei Münchendorf im Bezirk Mödling entgleiste am Abend des 9. Mai 2022 ein Elektrotriebzug der Raaberbahn. Zwei Waggons stürzten um, ein Fahrgast starb, drei Personen wurden schwer, neun leicht verletzt.
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Wien – Das Verfahren über das Zugunglück auf der Pottendorfer Linie bei Münchendorf im Mai 2022 muss neu aufgerollt werden. Wie DER STANDARD in Erfahrung brachte, hat das Oberlandesgericht Wien (OLG) das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt bereits im August 2023 von Amts wegen aufgehoben. Am Donnerstag wird die Causa erneut vor dem Erstgericht verhandelt, diesfalls unter Vorsitz des Vizepräsidenten des Landesgerichts, Hans Barwitzius.

Das OLG Wien begründete die Aufhebung des Schuldspruchs gegen den Triebfahrzeugführer laut dem Urteil, das dem STANDARD vorliegt, mit Mängeln im Beweisverfahren des Erstgerichts. So wurde die Signalanlage nach dem Unfall vom eigens beauftragten Eisenbahnsachverständigen weder auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft, noch standen Untersuchungsberichte der ÖBB als Infrastrukturbetreiber oder der Raaberbahn als Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Verfügung. Die für Bau und Betrieb des ÖBB-Streckennetzes zuständige ÖBB-Infrastruktur etwa gab an, dass die Signalanlage am 19. Februar 2022, also drei Monate vor dem Zugunglück, überprüft wurde und dabei "keine sicherungstechnischen Mängel" zutage gefördert wurden. Eine Dokumentation dieser Überprüfung lag allerdings ebenso wenig vor wie eine Auswertung des Stellwerks zum Zeitpunkt des Vorfalls.

Excel-Liste als Diagnosesystem

Als Diagnosesystem vorgelegt und vom Erstgericht akzeptiert wurde lediglich eine Excel-Liste des Herstellers Siemens, die allerdings weder ein Standdatum enthielt noch einen Hinweis auf den Aussteller oder Bearbeiter der Tabelle. Stattdessen gab es Anmerkungen des Herstellers in einer nachträglich hinzugefügten Spalte. Die Liste war am 11. Mai erstellt worden, letzte Änderungen wurden laut den Metadaten der Datei am 19. Juli 2022 vorgenommen, also zwei Monate nach dem Zugunglück. Der mit der Erstellung dieser Excel-Liste betraute Siemens-Mitarbeiter werde zur Stellwerk-Auswertung als Zeuge zu befragen sein, heißt es im OLG-Urteil. Schließlich seien bei der Erstellung von Excel-Listen in jüngster Vergangenheit – wenn auch in anderem Zusammenhang – "selbst bei Routinetätigkeiten erhebliche Fehlerquellen offenkundig" geworden. Unschwer zu erkennen, dass dieser Seitenhieb auf das Excel-Debakel bei der Wahl des SPÖ-Vorsitzenden abzielt.

Regelwerke ignoriert?

Nicht minder spannend und für den Netzbetreiber ÖBB heikel dürfte im zweiten Rechtsgang die Frage nach den maßgeblichen Rechts- und Betriebsvorschriften werden. Der Lokführer des Regionalzugs Rex 7657 hatte im Prozess ja beteuert, dass er über die kurzfristige Umleitung seines Zuges im Bahnhof Münchendorf auf das Gegengleis hätte informiert werden müssen, allerdings vom Fahrdienstleiter (im Stellwerk in Wien) weder fernmündlich noch über Funk kontaktiert worden sei. Gemäß Eisenbahngesetz, den Betriebsvorschriften und Regelwerken der ÖBB insbesondere der Verfahrensanweisung "Abweichungsmanagement" ist neben der Signalisierung eine Kontaktaufnahme der Betriebsführungszentrale mit dem Triebfahrzeugführer vorgeschrieben. Eine diesbezügliche "Eisenbahnvorschrift" dürfte doch existieren. Im Strafprozess hatten die Fahrdienstleiter als Zeugen ausgesagt, sie hätten keine Kenntnis von einer solchen Vorschrift.

Das im Zuge der Entgleisung bei Münchendorf umgestürzte und schwer beschädigte Triebfahrzeug.  
Auch der Lokführer des Zuges der Raab-Ödenburg-Ebenfurther Eisenbahn wurde bei der Entgleisung auf der Pottendorfer Linie schwer verletzt.
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Dieses Detail könnte im Berufungsverfahren entscheidend sein. Denn mit der "Rotausleuchtung" eines Gleises auf den Monitoren der Fahrdienstleitung wegen einer Störung und der überraschenden Umleitung des Raaberbahn-Zugs auf das Gegengleis nahm jene Verkettung von Umständen ihren Anfang, die zur Fehlinterpretation bzw. Missachtung des Ausfuhrsignals und letztlich zum schweren Zugunglück führte. Diese Störung fiel im Stellwerk zunächst niemandem auf, dann wurde der Raaberbahn-Zug auf das Gegengleis geleitet, von wo der Zug wieder zurück auf das rechte Gleis geführt wurde. Einen objektiven Nachweis für das einwandfreie Funktionieren der Signalanlage und den Zustand des Signals zum Zeitpunkt des Vorfalls legte der Eisenbahnsachverständige – er ist zugleich stellvertretender Abteilungsleiter der Obersten Eisenbahnbehörde im Verkehrsministerium, also der Aufsichtsbehörde der ÖBB – übrigens nicht vor. Dennoch leitete das Erstgericht von dessen Gutachten die Feststellung ab, dass die Signalanlage in einwandfreiem Zustand gewesen sei.

Eine Rolle spielte auch das Zugsicherungssystem, das die Folgen menschliches Versagen durch Zwangsbremsung eines Zuges eigentlich verhindern sollte. Denn wäre zum Zeitpunkt des Unfalls auf der über weite Strecken zur Hochleistungsstrecke aufgerüsteten Pottendorfer Linie bereits das europäische Zugsicherungssystem ETCS installiert gewesen, wäre der Unfall möglicherweise verhindert worden. Mit dem herkömmlichen analogen PZB-System, bei dem Fahrzeuge an bestimmten Punkten mittels starker Magnete gestoppt werden und das von der ÖBB auch auf Neubaustrecken eingebaut wird, war ein Anhalten des Zuges hingegen nicht möglich.

Wie berichtet, war der Lokführer des Raaberbahn-Zuges im Jänner 2023 wegen des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollzug auf drei Jahre bedingt nachgesehen wurde. Er hatte bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Münchendorf in der Folge ein Signal nicht richtig wahrgenommen und beschleunigte auf 145 km/h statt nur auf 60 km/h. Das führte letztlich dazu, dass der Zug über eine für maximal 60 km/h konzipierte Weiche mit einer deutlich zu hohen Geschwindigkeit fuhr und in einem Acker landete. (Luise Ungerboeck, 7.3.2024)