Die Nachricht ging Mitte Februar schneller um die Welt als die Internationale Raumstation: Mike Turner, der republikanische Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, warnte eindringlich wie kryptisch vor einer "ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit" und forderte US-Präsident Joe Biden auf, "alle Informationen zu dieser Bedrohung" zu veröffentlichen. Bald wurde durch Medienberichte klar, worauf sich Turner bezog: Den US-Geheimdiensten liegen demnach Informationen vor, dass Russland an einer neuen Weltraumwaffe arbeite, möglicherweise mit nuklearen Kapazitäten. Russland dementiert das.

Die USA haben demnach ihre Verbündeten darüber informiert, dass Russland noch in diesem Jahr eine neue Antisatellitenwaffe ins All bringen könnte, die nuklear bestückt sein könnte. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg am Freitag berichtete, wollen die USA demnächst eine Resolution im UN-Sicherheitsrat einbringen, die das seit 1967 geltende Verbot von Atomwaffen im Weltraum unterstreicht. Dass Moskau im Entwurf der Resolution konkret genannt wird, darf bezweifelt werden, Russland ist wie die USA ebenfalls ständiges Mitglied im Sicherheitsrat und kann ein Veto gegen Resolutionen einlegen.

Mike Turner
Mike Turner, der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, ließ im Februar mit Andeutungen über eine "ernsthafte Bedrohung" aufhorchen.
EPA/JIM LO SCALZO

Totalausfall im Orbit

Nähere Details zu der angeblichen russischen Waffe liegen nicht vor. Moskau weist Berichte über ein derartiges Projekt zurück, unter Fachleuten herrscht Uneinigkeit, was die Plausibilität einer angeblichen russischen Weltraumnuklearwaffe betrifft. Fest steht, dass einige Länder schon lange über Antisatellitenwaffen verfügen: Die USA und die Sowjetunion arbeiteten schon in den 1950-Jahren an Möglichkeiten, einzelne Satelliten im Erdorbit auszuschalten. Neben Washington und Moskau verfügen auch China und Indien über derartige Kapazitäten.

Der Bau atomar bestückter Antisatellitenwaffen wäre aber eine dramatische Eskalation. Auch wenn sie für das irdische Leben nicht unmittelbar bedrohlich wären, hätte ihr Einsatz dramatische Auswirkungen, sowohl im All als auch auf der Erde. "Die Hauptbedrohung wäre ein elektromagnetischer Impuls", sagt Hermann Ludwig Moeller, Direktor des European Space Policy Institute (ESPI) in Wien. "Das ist physikalisch nichts anderes als das, was bei einer großen Sonneneruption entstehen kann, und es führt dazu, dass die Elektronik durchbrennt." Die Folge wäre der Verlust oder Totalausfall vieler Satelliten, völlig ungeachtet davon, wer sie betreibt und welchen Zweck sie erfüllen.

Start eines Starlink-Satelliten von Space X. Das US-Unternehmen hat schon mehr als 5.000 Satelliten im Erdorbit, mehr als jeder andere Betreiber.
AP/Malcolm Denemark

Künstliches Polarlicht

Die enormen Auswirkungen von Atomexplosionen im erdnahen Weltraum beobachtete man schon vor mehr als einem halben Jahrhundert. Sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten führten Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre Atomtests in großer Höhe durch. 1962 ließen die USA beim größten derartigen Versuch, dem sogenannten Starfish-Prime-Test, einen 1,4-Megatonnen-Sprengkopf rund 400 Kilometer über dem Pazifik detonieren. Das ist in etwa die Höhe, in der sich heute die Internationale Raumstation befindet.

Ein künstliches Polarlicht, das mehrere Tausend Kilometer weit zu sehen war, blieb das harmloseste Ergebnis dieses Versuchs. Der durch die Detonation verursachte elektromagnetische Puls, der sich in der Erdatmosphäre ausbreitete, sorgte für den Ausfall von Elektronik und Telefonverbindungen in 1.500 Kilometern Entfernung zum Detonationspunkt und zog ein Drittel aller Satelliten im Orbit in Mitleidenschaft: Sieben davon, darunter auch zivile Forschungs- und Telekommunikationssatelliten, wurden funktionsuntüchtig. Untersuchungen zeigten, dass die freigesetzte Röntgenstrahlung noch jahrelang zu Schäden an Satelliten führte. Im Vergleich zu heute war der Orbit 1962 aber noch fast leer.

Starfish Prime
Aufnahme des Starfish-Prime-Tests eine Minute nach der Detonation in rund 400 Kilometer Höhe.
Los Alamos National Laboratory

Unkalkulierbares Risiko

Heute hätte eine solche Detonation weitaus größere Folgen, sagt Moeller. "Zum einen verliert man Infrastruktur im Orbit. Aber das Problem ist nicht nur, dass man Satelliten verliert, sondern auch die Dienstleistungen, die an diesen Satelliten hängen." Betroffen wären etwa Wettervorhersagen und Klimaforschung, Transport, Landwirtschaft oder das Bankwesen und die Stromwirtschaft. Eine atomare Antisatellitenwaffe würde also alle Dienste im erdnahen Weltraum bedrohen, zivile wie militärische, und zwar egal, wer sie betreibt und nutzt. Da sich auch die ISS im Erdorbit befindet, "wären auch einige Menschenleben direkt gefährdet", sagt Moeller.

Ein weiteres unkalkulierbares Risiko wäre der zusätzliche Weltraumschrott, der durch eine Atomexplosion anfallen würde. Beim Starfish-Prime-Test 1962 kreisten gerade einmal zwei Dutzend Satelliten um die Erde, heute sind es fast 10.000 – dazu kommen Millionen von Trümmern unterschiedlicher Größe, die schon jetzt aktive Satelliten und die Raumstation gefährden. Die ISS musste in den vergangen zwei Jahrzehnten mehr als 30-mal ihren Kurs ändern, um Kollisionen zu vermeiden. Eine Detonation hätte auch in dieser Hinsicht unkontrollierbare Auswirkungen für alle im Orbit aktiven Player, auch für den Aggressor und seine Verbündeten.

Die Erde vom Weltall aus, umgeben von zahlreichen winzigen Satelliten.
Weltraumschrott ist schon heute ein massives Problem für die Raumfahrt im erdnahen Orbit.
Esa

Verbotene Weltraumwaffen

Dass es durch Atomwaffenschläge im Weltraum keine Gewinner geben kann, war nach den Tests in den 1960er-Jahren offenkundig. Im 1967 geschlossenen Weltraumvertrag (Outer Space Treaty), der ein grundlegendes Regelwerk für Tätigkeiten im Weltraum darstellt, wurde daher ein Verbot festgeschrieben: Der Vertrag, den alle wichtigen Weltraumnationen unterzeichnet haben, erlaubt keine Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen im Orbit oder auf Himmelskörpern.

Ob Russland tatsächlich einen Vertragsbruch riskieren würde, lässt sich anhand der vorliegenden öffentlichen Informationen nicht beantworten. Für Moeller ist allein die Diskussion über eine solche Drohgebärde aber ein weiterer Indikator für einen Umbruch im All, den wir gerade erleben. "Der Beginn des Ukrainekriegs war der Moment, in dem die Raumfahrt in ein neues Zeitalter eingetreten ist. Da ist wirklich klar geworden, was für ein strategisches Element die Raumfahrt auch im Kriegsfall ist", sagt der Experte.

Zeitenwende im Weltraum

Satellitenbilder aus dem All waren es, die schon Wochen vor dem russischen Überfall im Februar 2022 von großen Panzer- und Truppenbewegungen zeugten und Geheimdienste und Militärs in der Ukraine und im Westen in Alarmbereitschaft versetzten. Eine Stunde vor dem Überfall erfolgte dann ein russischer Cyberangriff auf den Satellitennetzprovider Viasat, der zu massiven Kommunikationsausfällen bei den ukrainischen Streitkräften führte. Satellitendienste spielen seitdem eine herausragende Rolle im Ukrainekrieg, neben der Kommunikation auch in Bereichen wie Aufklärung oder Steuerung von Waffensystemen.

Starlink Ukraine
Ein ukrainischer Soldat nutzt das Starlink-System der Weltraumfirma Space X an der Front nahe Awdijiwka.
REUTERS/STRINGER

Für Moeller zeigt diese Entwicklung klar, dass die Raumfahrt "Teil einer gesamtheitlichen Politik" werden müsse. "Die Raumfahrt ist nicht mehr ein Bereich, der für sich allein steht, sie ist zunehmend mit Sicherheit und Verteidigung verknüpft." Europa sei dringlich gefordert, mehr Resilienz in diesem Bereich zu entwickeln, "damit man in der Lage ist, weiter zu funktionieren und operativ zu bleiben, auch wenn jemand wirklich zerstörerische Kräfte einsetzt".

Die Bedeutung des Weltraums dürfe nicht länger unterschätzt werden, sagt Moeller, weder als Krisenschauplatz noch als Innovationstreiber und Wirtschaftsfaktor. "Der Raum ist nicht so anders als die Erde, die Menschen verhalten sich dort nicht anders." (David Rennert, 9.3.2024)