Sie hat Klasse, Stil – und sich dabei eine spannende Gewöhnlichkeit erhalten: die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller.
Sie hat Klasse, Stil – und sich dabei eine spannende Gewöhnlichkeit erhalten: die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller.
Chris Pizzello/Invision/AP

Sandra Hüller eilt der Ruf voraus, ungreifbar zu sein: Gegenüber der Presse gilt sie als scheu. Ihre Figuren haben immer einen doppelten Boden, sei es am Theater oder im Film. Das Interessante dabei ist aber, dass sich dieser Effekt mit einer nahezu Merkel’schen Bodenständigkeit kreuzt. Hüller strahlt eine besondere, ambivalente Präsenz aus. Justine Triet, die Regisseurin, die Hüller in Anatomie eines Falls zu Höhenflügen anstachelte, beschrieb ihre Hauptdarstellerin so: "Sandra ist nicht an Verführung interessiert. Sie ist einfach sie selbst, sie sagt, was sie denkt, sie möchte nicht gefallen. Das ist sehr selten, vor allem bei Schauspielern."

Kurzum: Sandra Hüller ist eine ehrliche Haut, und das kommt gerade wahnsinnig gut an. Sie war letztes Jahr nicht nur die ungekrönte Königin von Cannes, wo zwei Filme mit ihr die Hauptpreise gewannen – weshalb ihr, der Festivallogik folgend, der Schauspielpreis verwehrt blieb. Diese Filme sind nun auch mit je fünf Nominierungen im Oscar-Rennen, das Sonntagnacht in die Zielgerade geht: Als Hauptdarstellerin ist sie für Triets Anatomie eines Falls nominiert. Darin spielt sie eine deutsche Schriftstellerin, die in Frankreich des Mordes an ihrem Mann beschuldigt und angeklagt wird. In Rückblenden sieht man die beiden streiten. "Du beschwerst dich über ein Leben, das du gewählt hast. Du bist kein Opfer!", weist sie ihren Mann zurecht und wird so zur Ikone der messerscharfen Ehrlichkeit. Die Szene ging auf Tiktok viral.

Emotionslos wie keine andere

Diese Qualität ist Hüllers größter Trumpf, den auch Jonathan Glazers Auschwitz-Ehedrama The Zone of Interest zu nutzen weiß. Hier spielt sie Hedwig Höß, die Frau des Lagerkommandanten, die gerne gartelt und sich nicht am Vernichtungslager hinter der Gartenmauer stört. Es ist eine pragmatisch-kühle Performance. In Interviews betonte Hüller, dass sie ihrer Figur aus Selbstschutz nur ihren Körper geliehen, ihr aber keinerlei Emotion verliehen habe. Das Resultat ist eine Figur, die tatsächlich einige Hirnareale stillgelegt zu haben scheint, insbesondere das Empathiezentrum. Banal und böse.

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Wie keine andere kann Hüller eine ihre Emotionen verdrängende Deutsche spielen, die irgendwann einmal ausrastet. Nicht nur in ihren Oscar-nominierten Filmen, auch in der schwarzen Komödie Toni Erdmann verkörperte sie als Tochter von Peter Simonischeks Titelhelden diese Rolle. Vielleicht liegt es auch an der verdächtigen Ruhebedürftigkeit, die sie ausstrahlt. Bei öffentlichen Auftritten umgibt sie stets eine Aura, die mitzuteilen scheint: Eigentlich würde ich gerade lieber inkognito mit meinem Hund (dessen Name übrigens ein gut gehütetes Geheimnis ist) Gassi gehen.

20-minütige Schweigepause

"Ich mag mein Leben. Ich mag meine Wohnung. Ich mag meine tägliche Routine. Es gibt keinen Mangel an irgendetwas, den ich ausfüllen müsste. Ich habe nicht darauf gewartet, dass das passiert", sagte die Schauspielerin denn auch der New York Times, die sich in den vergangenen Wochen wie so viele US-Medien begeistert auf die 45-Jährige gestürzt hat. Auf der Couch bei Late-Night-Show-Host Jimmy Kimmel, der heuer die Oscars zum vierten Mal moderieren wird, kam die Wahlleipzigerin sogar auf ihre Kinderjahre in der DDR zu sprechen. Als "das grüne Herz Deutschlands" bezeichnete sie Thüringen, das mitteldeutsche Bundesland, das für seine würzigen Würste ebenso berühmt ist wie für die Weimarer Klassik. Und nun auch für Hüller.

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Nach einer stillen Schulzeit, in der sie nur zwei Freundinnen gehabt und ihre Zeit damit verbracht habe, Menschen zu beobachten, ging es nach Berlin an die Ernst-Busch-Schauspielschule. Neben Film- ist sie auch eine begnadete Bühnenschauspielerin. 2018 war sie in Penthesilea bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Umjubelt war jüngst etwa ihre Hamlet-Darstellung am Schauspiel Leipzig, natürlich vor ausverkauftem Haus. Insbesondere eine 20-minütige Schweigepause begeisterte die Kritik. Denn das kann sie: beredt schweigen. (Valerie Dirk, 9.3.2024)