Im Roten Wien schwenkt die Sozialdemokratie die Fahnen: Fanni und Otto (Katharina Klar, Alexander Absenger, vorne). 
Im Roten Wien schwenkt die Sozialdemokratie die Fahnen: Fanni und Otto (Katharina Klar, Alexander Absenger, mittig vorne).
Moritz Schell

Bei den Wiener Theatern geht es Schlag auf Schlag. In den kommenden drei Spielzeiten wechseln hintereinander die Intendanzen aller großen Sprechbühnen. Ins Burgtheater zieht dieses Jahr noch Stefan Bachmann ein, Jan Philipp Gloger übernimmt im Herbst darauf das Volkstheater. Und ein weiteres Jahr später, 2026/27, bekommt das Theater in der Josefstadt eine neue Leitung.

Dessen amtierender Direktor Herbert Föttinger hatte sein Adieu nach 20 Jahren an der Spitze des Hauses längst angekündigt; die Ausschreibung soll am 23. März veröffentlicht werden. Als Regisseur hat sich der 62-Jährige bereits am Donnerstag verabschiedet, als er seine avisierte letzte Inszenierung am Haus präsentierte: Leben und Sterben in Wien von Thomas Arzt. Das Stück erzählt von der allmählichen Verankerung einer diktatorischen Regierung in den neuralgischen Jahren der Zwischenkriegszeit von 1927 bis 1934 und ist durchaus als Lehrstück über politischen Extremismus zu verstehen.

Es wird keineswegs Föttingers beste Arbeit gewesen sein. Die aufklärerisch gemeinte Rückschau in eine düstere Vergangenheit blieb ein museales Gebilde aus patinierten, klischeehaft zugespitzten Figuren und dramatischen Wendungen. Im Mittelpunkt steht die Magd Fanni (Feingefühl und Zähigkeit verbindend: Katharina Klar), die sich zwischen den Fronten der aufgebrachten politischen Lager, zwischen Stadt und Land und eingekerkert ins Patriarchat einen Lebensausweg zu erkämpfen sucht. Ihre Emanzipation mitanzusehen ist deprimierend. Ihr Kopf wird mehrfach gegen offene Herrenhosentürln gedrückt, sie muss naive Fragen stellen ("Wollt fragen, warum tragen die Leut die Gewehre?"), und wenn sie die Fahne schwenkt, geht das auch nicht ohne Mann.

Historisches Kapitel

Entlang ihrer Entwicklung von der Bauernmagd zur Volkshochschulbesucherin in der Großstadt Wien vollzieht sich österreichische Weltgeschichte. Kanzler Dollfuß geht hart gegen die Sozialdemokratie vor und erlässt zahlreiche restriktive Notverordnungen.

Auf der Bühne des Theaters in der Josefstadt treffen Heimwehr- und Schutzbund-Milizen aufeinander. Diese formieren sich dank eines 20-köpfigen Bewegungschors (Passantinnen und Passanten) auch immer wieder zu rhythmusstarken Kampfliedern – komponiert und live gespielt von Matthias Jakisic. Mit diesem sehr präsenten Pulk an Menschen integriert Föttinger das Bild einer heute vielzitierten schweigenden Mehrheit, die Mitläufer oder bloße Zaungäste der politischen Prozesse darstellt. Das hat Kraft.

Der Abend und sein Stoff finden aber aus ihrer Historizität nicht hinaus. Mögen zwar Fanni und ihre politische Mentorin wie Freundin Sara (Johanna Mahaffy) in eine frauenpolitisch bessere Zukunft vorausweisen, so hat die Inszenierung in Anthrazitfarben (Bühne: Die Schichtarbeiter) vorwiegend Rückblickcharakter. Zu ihren Typen zählen der Großbauer (mächtig: Robert Joseph Bartl), die Alte (vehement: Lore Stefanek), Heimwehrler und Schutzbündler (Jakob Elsenwenger, Alexander Absenger).

Amputierte Sprache

Zum weiteren Gesellschaftsspektrum gehören die Arbeiterin und Prostituierte (Alma Hasun), der Kriminelle (Thomas Frank), der Student (Nils Arztmann) sowie die älteren, sich gegen den Extremismus stellenden Zeitgenossen: die Gräfin (Ulli Maier), der Theaterdirektor (Günter Franzmeier) und der Inspektor (Joseph Lorenz).

Mit Dramen über Margarete Maultasch, über das Republiksjubiläum (Die Österreicherinnen) oder über den in der Figur Peter Roseggers gespeicherten Heimatbegriff gilt Thomas Arzt als österreichischer Aufarbeitungsdramatiker par excellence.

Gerade das Lehrhafte an diesen oft mit einer sachten, amputierten Kunstsprache operierenden Stücken steht einer szenischen Realisierung wohl am allermeisten entgegen. Die Regie müsste alle Hände und Füße zusammennehmen, um vom Botschaftspfad abzuweichen, was hier allerdings nicht gelingt. (Margarete Affenzeller, 8.3.2024)