Illustration eines Gehirns, das mit einer Taschenlampe durch ein Universum aus Gedanken spaziert 
Bei AD(H)S kann das Gehirn die einstürmenden Reize nicht filtern. Es fällt schwer zu priorisieren und unwichtige Dinge auszublenden. Das kann positiv sein, weil man viel mehr mitbekommt. Aber je mehr Reize einprasseln, desto anstrengender ist es.
Der Standard/Oana Rotariu

Konzentrationsprobleme, schlechtes Zeitmanagement, unendlicher Bewegungsdrang, unüberlegtes Handeln. Aber auch tiefe Konzentration und ein enormes kreatives Potenzial. All das sind Eigenschaften von Menschen mit AD(H)S. Sie können ihre Mitmenschen – und manchmal auch sich selbst – ordentlich herausfordern. Gleichzeitig haben sie ganz besondere Talente.

Doch was ist AD(H)S genau? Und wie geht man damit um? AD(H)S steht für Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störung. Das H ist deshalb in Klammern, weil Hyperaktivität nicht bei allen Betroffenen vorhanden ist. Es handelt sich dabei um eine Netzwerkstörung, bei der der Botenstoff Dopamin im Gehirn zu schnell abgebaut wird, daraus entsteht ein Mangel. Das Syndrom kommt relativ häufig vor, zwischen 3,5 und fünf Prozent aller Menschen sind davon betroffen, das sind allein in Österreich zwischen 315.000 und 450.000 Menschen.

Grundsätzlich wird das Phänomen vor allem bei Kindern und Jugendlichen verortet, doch man weiß mittlerweile, dass ein Großteil der AD(H)S-betroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter Symptome aufweist. Und immer mehr Menschen bekommen auch erst im Erwachsenenalter eine Diagnose, erklärt Astrid Neuy-Lobkowicz. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und Mitbegründerin des ADHS-Zentrums München. Ihr Schwerpunkt liegt auf AD(H)S bei Erwachsenen sowie bei Mädchen und Frauen. Drei ihrer fünf Kinder sind von AD(H)S betroffen, und auch sie selbst hat, als Erwachsene, diese Diagnose bekommen. Soeben ist ihr Buch "Weibliche AD(H)S" im Kösel-Verlag erschienen.

Zwischen Reizüberflutung und Hyperfokus

Prinzipiell gibt es für AD(H)S eine genetische Disposition, in den allermeisten Fällen kommen die Betroffenen damit zur Welt. "Deshalb gibt es oft mehrere betroffene Mitglieder innerhalb einer Familie", weiß Neuy-Lobkowicz. Und sie betont: "Das zeigt auch, dass niemand 'schuld' daran ist. Es ist einfach eine neurobiologische Besonderheit, die vererbt wird. Ich sage immer, AD(H)S ist eine ganz besondere Art zu sein."

Die genetische Disposition ist auch deshalb belegt, weil sich die Störung auch manifestiert, wenn etwa ein Kind in einer Pflegefamilie aufwächst oder adoptiert ist. "AD(H)S entsteht nicht durch falsche Erziehung oder eine schwierige Kindheit." Nur in ganz seltenen Fällen ist AD(H)S erworben, etwa durch Frühgeburt, Mangelgeburt oder wenn Mütter in der Schwangerschaft rauchen, aber auch ein Unfall mit Kopfverletzung kann die Symptome auslösen. Neuy-Lobkowicz ist vor allem wichtig, dass wertfrei über das Thema gesprochen wird, es gehe hier einfach um Neurodiversität: "Und es ist ja gut, dass nicht alle Menschen gleich sind. AD(H)S-Betroffene haben einfach ein anderes Stärken- und Schwächenprofil."

Die typischen Symptome sind dabei recht gut bekannt: AD(H)Sler haben Probleme, sich zu konzentrieren. Sie sind reizoffen, "das bedeutet, das Gehirn kann ganz schlecht priorisieren und unwichtige Dinge ausblenden. Sie bekommen alles, was um sie herum passiert, auf den Schirm, jedes Handygespräch im Umfeld, den vorbeifahrenden Laster, alles." Das kann positiv sein, weil man viel mehr mitbekommt. Aber je mehr Reize einprasseln, desto größer wird auch die Anspannung.

Neben diese Reizoffenheit haben sie aber auch die Fähigkeit zum Hyperfokus. "Das ist wie eine Art Flow, in den man kommt, man taucht so tief ein, etwas macht so viel Spaß, dass man wirklich Berge versetzen kann", beschreibt Neuy-Lobkowicz. Umgekehrt fällt es Menschen mit AD(H)S sehr schwer, Dinge zu tun, die ihnen keinen Spaß machen, die Aufmerksamkeit driftet dann schnell ab.

Überschießende Emotionen

Ein weiteres typisches Symptom ist, dass Betroffene sehr dünnhäutig sind. Die Alarmanlagen sind sozusagen extrem scharf gestellt, sie reagieren ständig und oft zu heftig. Deshalb fühlen sich Menschen mit AD(H)S oft von einer simplen blöden Bemerkung richtig getroffen, gekränkt oder abgelehnt. "Man erlebt vieles feindseliger, deutlich verletzender und aggressiver, als es tatsächlich gemeint ist. Und das führt wiederum dazu, dass man emotional überschießend reagiert", erklärt die Psychosomatikerin. Das könne auf andere dann völlig unangemessen und überzogen wirken.

Manche werden dann laut, reagieren ablehnend oder auch aggressiv. Es kann etwa vorkommen, dass ein Kind bei einem kleinen Schubser scheinbar grundlos heftig zurückhaut. "Da ist dann diese scharfgestellte Alarmanalage losgegangen", erklärt Neuy-Lobkowicz. Andere ziehen sich eher in sich selbst zurück. Hier ortet die Expertin einen entscheidenden Unterschied im Symptombild zwischen Buben und Mädchen, Männern und Frauen: "Männer haben vorwiegend den hyperaktiven Typ. Die sind tendenziell eher laut, ungestüm, hauen alles raus." Deshalb ist diese Ausprägung wesentlich bekannter, man könne es einfach leichter begreifen, wenn jemand sich ständig bewegen muss, sich auffallend und womöglich auch öfter aggressiv verhält.

"Mädchen dagegen sind oft eher unaufmerksam, verträumt, vergesslich, manchmal auch langsam, sie können sich oft schlecht zu Wehr setzen." Bis sie die Situation erfassen, ist sie schon wieder vorbei. Viel später fällt ihnen dann ein, wie sie sich hätten besser behaupten können. Das kann auch dazu führen, dass sie öfter gemobbt werden oder sie ein schlechtes Selbstwertgefühl entwickeln. Und es führt auch dazu, dass AD(H)S bei ihnen später erkannt wird. Tatsächlich werden im Kindesalter Buben etwa fünfmal so häufig und im Schnitt um vier Jahre früher diagnostiziert als Mädchen – obwohl das Thema relativ gleich unter den Geschlechtern aufgeteilt ist.

Höheres Krankheitsrisiko

Auch eine Störung der Planungsfunktionen und der Selbststeuerung ist Teil der AD(H)S-Symptome. Es fällt Betroffenen etwa schwer, Arbeiten rechtzeitig anzufangen und diese auch zu Ende zu bringen. "Sie leben im Hier und Jetzt, haben ein ganz schlechtes Zeitgefühl und sind oft unpünktlich." So lange AD(H)Sler im Elternhaus wohnen, wird das oft abgefangen, sie haben dort Struktur, und auch die Schule setzt meist enge Grenzen.

Ziehen sie von zu Hause aus, wegen des Berufs oder weil sie zu studieren beginnen, fällt das weg, sie können an so simplen Dingen scheitern wie sich rechtzeitig für eine Prüfung an der Uni anzumelden, die Bachelorarbeit rechtzeitig anzufangen oder einfach pünktlich in der Arbeit zu erscheinen. Oft schaffen sie es auch nicht, ihre Wohnung aufzuräumen, Essen einzukaufen oder ihre Rechnungen zu bezahlen.

Das kann nicht nur in der Ausbildung, sondern später auch im Beruf zu Problemen führen. Und auch in der Beziehung. "In einer Partnerschaft können vor allem die überschießenden, impulsiven Gefühle und die Dünnhäutigkeit schwierig für das Gegenüber sein, es ist oft nicht verständlich, warum sich so schnell, aus dem Nichts, ein Drama entwickeln kann", weiß Neuy-Lobkowicz. Die Impulsivität ist vor allem bei ADHS ein Problem. ADS-Betroffene wiederum haben ein erhöhtes Risiko für Angsterkrankungen und insbesondere Depressionen, weil sie ihre Gefühle eher internalisieren, in sich hineinfressen und sich zurückziehen.

Und auch somatische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes Typ 2 oder Autoimmunerkrankungen haben AD(H)S-Betroffene häufiger, das zeigt die Forschung immer klarer. "Alle Stresserkrankungen sind häufiger, weil AD(H)Sler einfach mehr Stress haben als andere." Über 80 Prozent zeigen mindestens eine weitere Begleiterkrankung, über 50 Prozent mehr als zwei.

Schwierige Diagnose, einfache Behandlung

Wie stellt man nun fest, dass jemand von AD(H)S betroffen ist? Das ist oft gar nicht so einfach, es gibt keine Biomarker, Blutwerte oder Auffälligkeiten bei Gehirnscans, die das Problem eindeutig zeigen. Neuy-Lobkowicz erklärt: "Man muss einfach diese Kernsymptomatik erkennen und sie im gesamten Lebensverlauf darstellen können." Und genau hier zeigt sich ein großes Problem: Die Expertinnen und Experten fehlen. "Es gibt gute wissenschaftliche Erkenntnisse zu AD(H)S und klare Leitlinien, wie es diagnostiziert und behandelt werden muss. Darüber herrscht auch ein weltweiter Konsens, sowohl in den USA, in Kanada und auch in Europa."

Das Problem sei, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass diese Leitlinien so nicht umgesetzt werden. "Leider setzen sich bis heute zu wenig Psychiater und Psychotherapeuten mit AD(H)S auseinander. Das führt dazu, dass etwa in Deutschland nur zehn bis 15 Prozent der Betroffenen überhaupt diagnostiziert sind." Und es gibt zu wenig Betreuung. In Deutschland etwa seien AD(H)S-Ambulanzen so überfüllt, dass es zu monatelangen Wartezeiten kommt. In Österreich ist die Situation nicht besser.

Buchcover Weibliche AD(H)S
Das Buch "Weibliche AD(H)S. Wie Frauen mit AD(H)S erfolgreich, selbstbewusst und stabil leben können" von Astrid Neuy-Lobkowicz ist im Kösel-Verlag erschienen. € 18,95
Kösel Verlag

Das findet die Expertin umso tragischer, weil sich das Problem sehr gut und erfolgreich behandeln lässt: "Durch die Netzwerkstörung wird der Botenstoff Dopamin zu schnell abgebaut, deshalb muss er erhöht werden." Dopamin steuert im Gehirn Aufmerksamkeit, Konzentration und auch Motivation, indem es die unterschiedlichen Regionen miteinander verschaltet. Wenn es zu wenig davon gibt, funktioniert auch die Verschaltung nicht so gut.

Gibt man Dopamin, funktioniert auf einmal vieles im Leben deutlich leichter, ein Gefühl der Klarheit, Konzentration und inneren Gelassenheit stellt sich ein. Die innere Alarmanlage feuert nicht mehr so stark, "die Selbstkontrolle wird besser, man fühlt sich nicht mehr ständig gekränkt und verletzt. Der Kopf wird klarer, man kann Reize ausblenden und sich besser konzentrieren, Dinge leichter zu Ende bringen. Das schont die eigenen Nerven und die der Mitmenschen", erklärt Neuy-Lobkowicz.

Psychotherapie nicht erste Lösung

Psychotherapie sei nicht der erste Ansatz, betont die Expertin, obwohl auch psychische Probleme mit der Störung einhergehen: "Viele verstehen ja nicht, warum sie schon wieder etwas verbummelt haben oder simple Dinge nicht auf die Reihe bekommen. Das kann eine große Belastung sein." Doch Psychotherapie kann einen Dopaminmangel nicht wettmachen. Das Problem ist neurobiologisch, und der Botenstoff muss substituiert werden – sonst kann eine Depression oder Angststörung immer wieder genährt werden.

Viele Betroffene haben diesbezüglich einen langen Leidensweg hinter sich: "Zu mir in die Praxis kommen Menschen, die haben schon mehrere Psychotherapien gemacht oder hatten Klinikaufenthalte, und niemand ist auf ADHS gekommen. Wenn man dann die richtigen Medikamente gibt, ist das für viele wirklich life changing. Das ist ein bisschen so, wie wenn man jemandem, der sein ganzes Leben lang schlecht gesehen hat, eine Brille gibt, und auf einmal wird alles klar."

Eine Psychotherapie wird dann sogar oft hinfällig – oder sie ist erstmals erfolgreich, wenn die Medikation stimmt. Neuy-Lobkowicz setzt außerdem auf Psychoedukation. Dabei lernt man sich selbst besser verstehen, man bekommt eine Erklärung für das eigene Verhalten und eine Art Gebrauchsanweisung. Vor allem in der jüngeren Generation gibt es mittlerweile aber ein stärkeres Bewusstsein, auf Tiktok und Social Media thematisieren viele das Syndrom. Das führt auch zu mehr und besseren Diagnosen.

Neuy-Lobkowicz ist dabei nicht gegen Psychotherapie, im Gegenteil: "Viele Betroffene machen sich selbst Vorwürfe, haben das Gefühl, sie sind dumm und bekommen nichts auf die Reihe." Das schwächt natürlich den Selbstwert. Doch erst wenn man den Dopaminmangel behandelt hat, könne man diese Kränkungen und Verletzungen wirklich angehen.

Suchtgefahr auflösen

Die entsprechenden Substanzen haben aber bei manchen einen schlechten Ruf, auch aufgrund ihrer sogenannten paradoxen Wirkung. Neuy-Lobkowicz erklärt: "Neurotypische Menschen können durch diese Wirkstoffe aufgedreht und euphorisch werden, sie können auch abhängig machen. Bei Menschen mit AD(H)S ist die Wirkung aber anders, sie werden klarer, wacher, konzentrierter, bekommen ein dickeres Fell. Das hat nichts mit einem Kick oder Hype zu tun, deshalb ist auch die Gefahr der Abhängigkeit nicht gegeben." Aber natürlich gibt es Nebenwirkungen, Kopfschmerzen etwa, leichte Blutdruckerhöhung und auch Appetitstörungen.

Aber nicht alle benötigen medikamentöse Therapie, vor allem bei leichterer Ausprägung können Betroffene auch mit Verhaltenstherapie Strategien lernen, die sie in schwierigen Situationen einsetzen können. Manche Betroffene nehmen auch nur eine gewisse Zeit lang Medikamente ein. Die Expertin erklärt: "Das Gehirn kann dann neue Strategien lernen, das ist ja plastisch, es kann sich neu verschalten. Und irgendwann sind die neu erlernten Strategien so verankert, dass keine Medikamente mehr nötig sind."

Die richtige Behandlung ist übrigens auch deshalb so wichtig, weil AD(H)S-Betroffene ein wesentlich größeres Suchtrisiko haben. Diverse Substanzen werden zur Eigenmedikation eingesetzt, Cannabis etwa, Nikotin, Alkohol, aber auch Kokain, um die ständige Überreizung des Gehirns in den Griff zu bekommen. "Bei Mädchen kommt es auch sehr oft zu Essstörungen, vor allem Bulimie. Die beruhigen sich mit Essen, und dann kotzen sie alles wieder heraus." Tatsächlich passiert es oft, dass im Zuge einer AD(H)S-Behandlung das Suchtproblem einfach verschwindet – die beruhigende Wirkung ist nicht mehr nötig.

Geheime Superkraft

Wie geht man nun damit um, wenn man ein von AD(H)S betroffenes Kind hat? Neuy-Lobkowicz betont, wie wichtig Unterstützung für die Eltern ist: "Ich sage immer, hat man ein Kind mit AD(H)S, dann muss man es mal drei rechnen. Deshalb ist es ganz wichtig, die Eltern zu schulen, wie sie mit dieser Emotionalität und dieser Impulsivität umgehen können. Die beginnen ja oft auch an ihren eigenen Erziehungsfähigkeiten zu zweifeln." Eine gute und feste Struktur hilft, ebenso eine gewisse Strenge, nicht einfach machen lassen. "Hart, aber herzlich", nennt die Expertin das. Denn klare Grenzen sind wichtig, gleichzeitig müssen Eltern lernen, ihr Kind aufzufangen, wenn ihm alles zu viel wird. Und Lob, wenn etwas gelingt, ist sehr wichtig. Empfehlenswert sind auch viel Sport und Bewegung, im Sportverein etwa gebe es klare Regeln, die man lernen müsse.

In weiterer Folge müsse einem auch klar sein, dass nicht jeder Beruf ideal ist bei AD(H)S. Eher monotone Tätigkeiten ohne viel Abwechslung sind schwierig, weil die Aufmerksamkeit sofort abdriftet. "Man muss seine Nische finden", weiß Neuy-Lobkowicz. Eine Berufsrichtung, in der sich viele wohlfühlen, ist etwa alles, was mit Journalismus zu tun hat, weil hier kurze, hochkonzentrierte Aufmerksamkeitsspannen nötig sind und immer wieder Abschlüsse bzw. Ergebnisse vorliegen. Auch in der kreativen Branche fühlen sich Betroffene oft wohl.

Und eines ist Neuy-Lobkowicz ganz wichtig: Nicht alles muss automatisch schwieriger sein mit AD(H)S, es bringt auch besondere Talente mit sich. "Der Hyperfokus ist auch eine Superkraft. Die ermöglicht es, großartige Leistungen zu erbringen. Manche Menschen haben wirklich unglaubliche Lebensläufe, die schaffen Dinge, für die würden andere fünf Leben brauchen." Wichtig sei einfach, dass man eine Art Gebrauchsanweisung erlerne, die einem sagt, wo man seine individuellen Stärken und Schwächen hat. (Pia Kruckenhauser, 31.3.2024)