Tiktok WW3
Die Gefahr eines Atomkriegs und dessen mögliche Folgen werden in zahlreichen Videos thematisiert, untermalt mit KI-generierten Bildern.
Tiktok/TheInfographicsShow

Nicht erst seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin laut über den Einsatz von Atomwaffen nachdenkt und der Krieg in der Ukraine sich immer mehr zuspitzt, geht die Angst um, die Welt würde vor einem dritten Weltkrieg stehen. Vor allem auf Social Media werden solche Theorien schnell in einen Trend verwandelt, mit bunten Bildern unterlegt und ohne Zweitmeinungen einzuholen oder einen fachlichen Hintergrund mitzunehmen kommentiert.

So poppen speziell auf Tiktok in den letzten Wochen immer häufiger Videos mit genau diesem Hintergrund auf: Was würde passieren, wenn die Nato Russland angreifen würde? Was früher trocken nur mit Text und ein paar Fotos auf Papier hätte gedruckt werden müssen, wird heute dank KI-Software mit realistisch anmutenden Bildern ungefiltert ins Internet geblasen. Ein streng dreinblickender Putin, der Abschuss von Atomraketen und panische Zivilisten, die Schutz suchen.

Gelegentlich werden sogar "Experten" gezeigt und von diversen Tiktokern mit eigenen Worten interpretiert. Die Likes solcher Videos gehen in die Hunderttausende, gesehen werden sie noch viel öfter. Die Diskussionen darunter zeigen ebenfalls ein klares Bild: Die Nato übernimmt die Rolle des Aggressors, Russland jene des Verteidigers.

Er hat bereits begonnen

"World War 3 is happening now", titelt ein Tiktoker unbekannter Herkunft eines seiner Videos. Er zeigt darin einen ehemaligen CIA-Agenten, der das Thema in einem Podcast ausführt. Auf den Ansatz des Moderators, es fühle sich aktuell nicht wie der dritte Weltkrieg an, antwortet er, dass sich der Start des Zweiten Weltkriegs in den USA damals auch nicht wie ein Krieg angefühlt habe. "Was wir gerade sehen, ist ein großangelegter Angriff auf amerikanische Ressourcen, den US-Dollar, den Einfluss der USA – und jeder Krieg hat das Ziel, das Gegenüber in Sachen Einfluss und Stärke zu schwächen", erklärt der Agent. Ein weiterer Unterschied seien auch die weltweiten Stellvertreterkriege, die es vor dem Zweiten Weltkrieg so nicht gegeben habe. Es sei einfacher, einen Krieg zu "finanzieren", als diesen "selbst auszutragen".

Interessant ist die Erklärung des Tiktokers "crytosage26.eth", warum die Mehrheit der Weltbevölkerung "diesen Krieg nicht sieht". Menschen würden stattdessen viele Stunden auf Social Media verbringen und so gar nicht mitbekommen, was in der Welt da draußen wirklich passiere. Auch seine Brücke in Richtung "Bürgerkrieg" wird konstruiert. Social Media sei der "Schlüsselfaktor" in ebendiesem Bürgerkrieg, den er nicht genauer erklärt. Man würde Social Media in jedem Fall beobachten müssen, "bevor es zu spät ist".

Neben über 40.000 Likes und 3.300 Weiterleitungen des Videos finden sich zahlreiche zustimmende Kommentare. "Viele Leute wissen sehr genau, was in der Welt passiert, eben wegen Social Media. Sicher hört man die Wahrheit nicht in den Nachrichten", schreibt einer. "Der Krieg läuft doch schon seit zehn Jahren", ein anderer.

Visualisierungen helfen

Während man bei Videos wie dem genannten zumindest einen Menschen sieht, der offenbar diese Meinung vertritt, finden sich vor allem KI-generierte Bilder und Sprecher in visualisierten Dritter-Weltkrieg-Szenarien. Bei den meisten greift die Nato Russland an. Es werden Soldaten im Schnee gezeigt, und auf die historische Stärke von Russland in Kriegen mit diesen Bedingungen wird verwiesen. Nach ein paar Tagen würde Russland den ersten Atomschlag gegen ein Nato-Land starten, und die Nato würde mit Atomraketen reagieren. Mit der Antwort von Russland würde dann das Leben, wie wir es kennen, enden, verrät das Video, und wir wären "zurück im Steinzeitalter".

Die dritte Ausbaustufe sind Videos zum Thema Flucht und welche Länder sich für eine solche eignen würden. Da wird die Schweiz wegen des natürlichen Bergwalls als Schutz genannt beziehungsweise wegen ihrer Atomschutzbunker, die Platz für die gesamte Bevölkerung bieten sollen. Auch Inseln finden sich in so mancher Aufzählung. Malta etwa als unscheinbare Insel und noch einige andere Spots wie etwa Island.

Was tun?

Nun weiß man aus diversen Studien der letzten Jahre, dass Tiktok von zahlreichen Jugendlichen als eine von wenigen News-Quellen hergenommen wird. Einmal in dem Algorithmus gefangen, wird man mit solchen Weltuntergangsszenarien förmlich überschwemmt. Was das mit der Psyche von Jugendlichen machen kann, weiß Birgit Satke, Leiterin der Notrufnummer 147 bei Rat auf Draht. Solche "Negativ-Settings" würden sehr wohl in den zahlreichen Beratungsgesprächen Thema sein, erzählt sie dem STANDARD. "Wird man ständig mit solchen Inhalten konfrontiert, so löst dies bei einigen Jugendlichen große Unsicherheit und Angst aus, auch die eigene Zukunft betreffend", erklärt Satke. Wird man ein Stückweit in diese negativen Szenarios hineingezogen, löse das bei manchen eine "depressive Stimmung", bei anderen auch "Wut oder Ohnmacht und Hilflosigkeit" aus.

Die Einordnung solcher Gedanken wäre unbedingt erforderlich, so die Expertin. Ein Weg sei, Beratungsstellen wie Rat auf Draht zu kontaktieren, denn hier würden Kinder und Jugendliche bereits den Prozess starten, diese Themen für sich einordnen zu wollen. "Wir versuchen, sie dabei zu unterstützen, indem wir in einem ersten Schritt die aktuellen Belastungen thematisieren und mit ihnen über die erlebten Eindrücke und Gefühle sprechen." In weiterer Folge würde man versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden, wie man am besten mit der Situation umgehen könne und welche weitere Hilfe in Anspruch zu nehmen sei.

Satke und ihr Team würden immer wieder in den Gesprächen dazu aufrufen, "diese Inhalte kritisch zu hinterfragen, deren Quelle zu überprüfen und nur jene Quellen zu nutzen, wo fundierte, gut recherchierte Informationen bereitgestellt werden". Dass derartige Bilder und Videos starke Gefühle bei Kindern und Jugendlichen auslösen und sehr belastend sein können, würde außer Frage stehen, so die Expertin. Auf keinen Fall solle man mit diesen Gefühlen und Eindrücken allein bleiben. Würden etwa Eltern merken, dass sich ihre Kinder stark mit solchen Inhalten beschäftigen, müsse man das sofort ansprechen. Auch sich ganz bewusst "Social-Media-Pausen zu gönnen", um zur Ruhe zu kommen und den "Overload an Inhalten" zu verdauen, kann für die Betroffenen sehr hilfreich sein.

Tiktok WW3
Jugendliche erklären, warum der dritte Weltkrieg kommt und wer aller betroffen sein wird. Quellen für die Informationen werden nicht genannt.
Tiktok

Warum Tiktok?

Markus Bösch forscht an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg zu Desinformationskampagnen, vor allem auf Tiktok. Der Autor des Newsletters "Understanding Tiktok" widerspricht aber der These, dass sich die Videoplattform per se besser zur Verbreitung von Propaganda eigne als andere. KI-generierte Inhalte würde in ähnlicher Form auch auf Facebook, Instagram Reels oder Youtube Shorts verbreitet, denn auch diese verfügen über algorithmisch getriebene Inhaltskuratierung. Als Beispiel, dass auch andere Plattformen mit KI-generierten Inhalten geflutet werden, nennt Bösch die Betrugsform des "Shrimp-Jesus", DER STANDARD berichtete.

Aber: "Tiktok wird aufgrund der großen Nutzer:innenbasis (134 Millionen in Europa) und der vergleichsweise langen Nutzungsdauer (60 bis 90 Minuten pro Tag) genau wie alle anderen Plattformen für Propaganda, derzeit auch sehr viele russische Narrative, genutzt", so Bösch. "Tiktok bietet sich an, weil die ersten Videos neuer Accounts algorithmisch gepusht werden, das erleichtert kostengünstige schnelle Reichweite." Dann komme noch dazu, dass Tiktok-Videos cross-platform-kompatibel sind. Sprich: Die Videos kann man sehr einfach herunterladen und auf anderen Plattformen weiterposten. Auch dass KI-Inhalte verwendet werden, wundert den Forscher nicht: "KI-generierte Inhalte sind kostengünstig und schnell herstellbar und können in der Massenproduktion den gewünschten Propagandaeffekt (flood the zone with shit) erreichen, um generell Unsicherheit und Destabilisierung zu befördern."

Keine Antwort von Tiktok

DER STANDARD hat Tiktok mit einigen der fraglichen Videos konfrontiert und Nachfragen zur Inhaltsmoderation gestellt. Eine Antwort kam von Tiktok nicht. Die Videos, die wir als Beispiele mitgeschickt hatten, wurden allerdings kurz darauf von der Plattform entfernt. (Alexander Amon, Peter Zellinger, 1.4.2024)