Rund um Weihnachten und Silvester zeigte die Polizei vor dem Wiener Stephansdom verstärkte Präsenz.
APA/MAX SLOVENCIK

Es ist ein Befund, der kaum drastischer klingen könnte. Nicht vorrangig, aber eben auch für Österreich bestehe aktuell eine "besonders" hohe Terrorgefahr. Das sagte der deutsche Terrorforscher Peter Neumann am Montagabend in der "ZiB 2" – ohne dabei etwas zu beschönigen. Damit dürfte Neumann richtig liegen. Der Anschlag des "Islamischen Staates" in Moskau am vergangenen Wochenende mit mehr als 130 Toten folgt einem mittlerweile schaurigen Trend. Nach dem Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober vermutete Neumann das Losbrechen einer "neuen jihadistischen Welle". Wie sich zeigt, dürfte er damit recht behalten. Österreichs oberster Staatsschützer Omar Haijawi-Pirchner kalmiert ein wenig: Man habe "die islamistische Szene derzeit im Griff".

Schon seit vielen Monaten aber sind westliche Dienste und damit auch die österreichischen Staatsschützer wegen des sogenannten "Islamischen Staats Provinz Khorasan" (ISPK) in höchster Alarmbereitschaft. Dabei handelt es sich um einen IS-Ableger aus Zentralasien mit mehreren Tausend Mitgliedern, der sich nach dem Zusammenbruch der Terrorzentrale in Syrien und im Irak im Jahr 2019 als aktuell führende Struktur der Jihadisten etabliert hat. Der ISPK reklamierte den Anschlag in Moskau für sich. Es ist nur einer von mehreren Anschlägen der Terroristen in der jüngeren Vergangenheit, zuletzt etwa auch im Iran oder in der Türkei.

Die Gefahr der Diaspora

Weit davor kundschafteten europäische Geheimdienste bereits aus, dass es sich beim ISPK um ein Netzwerk handelt, das vorwiegend Tadschiken, aber auch Usbeken, Turkmenen und Kirgisen rekrutiert. Eine noch wichtigere Erkenntnis ist, dass sich die Terrorgruppe offenbar den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 zunutze machte und sich gezielt über diverse Fluchtrouten in Europa verteilt hatte. Das war auch der Grund, weshalb Österreichs Ermittler vor geraumer Zeit durchleuchteten, wer über diesen Weg mit entsprechender Staatsbürgerschaft ins Land gekommen war.

Die tadschikische Community etwa ist laut Daten der Statistik Austria in den vergangenen zwei Jahren von 442 auf 569 Personen angewachsen. Neumann sieht in der Diaspora ein reelles Problem: So sei es ein Leichtes für den ISPK, potenzielle Kämpfer auszumachen und zu rekrutieren. Die gleiche Diagnose stellte Neumann Deutschland und Russland aus. Aus österreichischen Sicherheitskreisen ist zu hören, dass Ermittler derzeit einige vermutete ISPK-Rekruten hierzulande beobachten. Erfolgreiche Attentate wie jenes in Moskau könnten der Gruppe zudem weiter Zulauf bescheren.

Erst rund um Weihnachten und Silvester war Gefahr im Verzug: Es kam zu mehreren Verhaftungen. ISPK-Zellen sollen koordinierte Anschläge in Wien und Köln geplant haben. Angeblich im Visier: der jeweilige Dom der Städte. Unter den Verdächtigen waren da wie dort Tadschiken. Darunter auch Mukhammadrajab B.

Der 30-Jährige lebte in Deutschland und soll im Dezember extra zweimal nach Wien gereist sein, um die angeblichen Terrorpläne mit den anderen beiden Verdächtigen abzustimmen, einem 28-jährigen Tadschiken und dessen 27 Jahre alter, aus der Türkei stammender Ehefrau. Die beiden Untersuchungshäftlinge lebten seit 2022 in einer Ottakringer Flüchtlingsunterkunft – davor in der Ukraine. Mit dem ISPK will von den beiden niemand etwas zu tun haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Die Rückkehr der Terrorzelle

Mukhammadrajab B. wurde erst Ende Februar per europäischen Haftbefehl nach Österreich überstellt. Die deutschen Behörden konnten nur dessen völlig gelöschtes Smartphone sicherstellen. Hierzulande glauben die Ermittler offenbar, mehr gegen ihn in der Hand zu haben. Aktuell werten Staatsschützer 6.000 Chats von insgesamt 14 sichergestellten Mobiltelefonen aus. Vieles davon ist in kyrillischer Schrift verfasst.

Die Verdachtslage schien sich zuletzt aber zu erhärten: Die Boulevardzeitung Heute berichtete, dass die Gruppe womöglich im Besitz eines versteckten Sprengstoffgürtels gewesen und Waffen im Wienerwald vergraben haben könnte. Mit B. dürfte zudem keine kleine Nummer des ISPK derzeit in einem Wiener Gefängnis sitzen. Der Tadschike habe sich nicht nur mit den beiden weiteren Verdächtigen ausgetauscht, sondern sei zwischenzeitlich auch in die Türkei geflogen: wohl um sich abzustimmen. Von der Türkei aus sollen die ISPK-Zellen in Europa koordiniert werden, vermuten Sicherheitsbehörden.

Staatsschützer betrachten den ISPK auch deshalb mit großer Sorge, weil er gerade dabei ist, etwas Entscheidendes zu verändern: Der Ableger der Jihadisten ist offenbar wieder in der Lage, Zellen zu koordinieren und Anschläge mit mehreren Terroristen durchzuführen. Nach der Implosion der IS-Zentrale in Syrien und dem Irak waren es zuletzt radikale, kämpferisch oft unerprobte Einzeltäter, die entweder Anschläge planten oder tatsächlich ausführten. Darunter der Wiener Attentäter am 2. November 2020, der Helfer hatte, aber allein loszog. Oder Ali K., der erst im vergangenen September mit einem Messer auf dem Wiener Hauptbahnhof stand – aber in letzter Sekunde den Rückzug antrat. Der ISPK zeigt gerade in brutaler Deutlichkeit: Seine Kämpfer sind das absolute Gegenteil davon. (Jan Michael Marchart, 27.3.2024)