Eine Polizeieinheit im Einsatz nach dem jihadistischen Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020. 
Seit Oktober gilt in Österreich die zweithöchste Terrorwarnstufe. Das wird sich nicht so schnell ändern.
AFP/ Joe Klamar

In Zahlen sind es 84 Tote und 284 Verletzte. Zwei Attentäter zündeten im Iran ihre Sprengstoffgürtel. Die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats (IS) bekannte sich zum Anschlag. Der Tag war nicht zufällig gewählt: Es war der Todestag des iranischen Generals Kassem Soleimani. Die Trauerveranstaltungen nutzen die Terroristen für ihr Attentat.

Für den deutschen Terrorexperten Peter Neumann ist das keine Überraschung. Der IS "hasst" den Iran, schreibt Neumann auf X (vormals Twitter). Das habe mit den unterschiedlichen islamischen Strömungen zu tun. Und damit, dass der Iran im syrischen Bürgerkrieg das dortigen Regime von Baschar al-Assad gegen die Jihadisten verteidigt habe.

Der IS bekannte sich aber nicht nur zu dem Anschlag im Südiran. Die Terrormiliz rief außerdem zu weltweiten Angriffen gegen Juden und Christen auf. Explizit genannt wurden Europa und die USA. Doch was bedeutet das für Österreich?

Aus Sicht österreichischer Staatsschützer – und wohl auch anderer westlicher Dienste – verändert der Aufruf des IS gar zunächst nicht wirklich etwas. Er ist nicht neu. Die Gefährdungslage durch Jihadisten in Österreich gilt bereits seit vielen Monaten als angespannt. Der Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober hat die ohnehin brenzlige Situation zusätzlich verschärft. Nicht umsonst befürchet Neumann in dieser Gemengelage eine "neue jihadistische Terrorwelle". Die Ressourcen der Staatsschützer stecken derzeit zu einem immensen Teil in der Terrorabwehr. In Österreich gilt seit Mitte Oktober die zweithöchste Terrorwarnstufe. Und erst rund um Silvester wurden in Österreich und Deutschland mutmaßliche Jihadisten festgenommen, die angeblich Anschlagspläne gewälzt hatten.

Der Aufruf kann aber durchaus ein weiterer Treiber für Radikalisierung sein und potenziellen Attentätern als Motivation dienen, tatsächlich einen Anschlag zu verüben. Die Terrormiliz IS darf dabei aber nicht isoliert betrachtet werden. Es gibt derzeit eine ganze Reihe von islamistischen Terrorgruppen, die heimischen Staatsschützern Sorgen bereiten. DER STANDARD hat sich umgehört.

Hamas

Seit dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel hat sich in der Einschätzung von Staatsschützern etwas Entscheidendes verändert. Bisher verfolgte die Hamas einen ausschließlich nationalistischen Fokus. Das heißt, der bewaffnete Kampf der Terrororganisation beschränkte sich auf den sogenannten Nahostkonflikt. Mit dem Ziel, Israel zu vernichten. Internationale Anschlagspläne, etwa in Europa, spielten eigentlich keine Rolle.

Gut eine Woche vor Weihnachten wurden in Deutschland, Dänemark und den Niederlanden aber mutmaßliche Hamas-Mitglieder festgenommen. Sie sollen angeblich Anschläge auf jüdische Einrichtungen geplant haben. Die Meldung machte die Sicherheitsbehörden in Österreich hellhörig. Hierzulande beschäftigen Staatsschützer vor allem mögliche Geldflüsse aus Österreich in Richtung Hamas. Diese Spur ist ein elementarer Teil der bisher erfolglosen Operation Luxor gegen mutmaßliche Muslimbrüder. Bisher fehlt allerdings noch der letztgültige Beweis.

Laut Schätzungen wird in Österreich dem Vernehmen nach eine niedrige dreistellige Zahl der Hamas zugerechnet. Die allermeisten davon seien allerdings in erster Linie als Sympathisanten der Terrorgruppe anzusehen.

"Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISKP)

Der Ableger des IS gilt seit dem Zusammenbruch der Zentrale in Syrien und im Irak im Jahr 2019 als Speerspitze der Terroristen. Sie soll über mehrere Tausend Mitglieder verfügen und ist in weiten Teilen Afghanistans, Pakistans, Irans und Zentralasiens aktiv. Der ISKP verübte in Afghanistan eine Reihe von Anschlägen. Aber auch Westeuropa gilt für die Jihadisten als Terrorziel.

Die mutmaßlichen Anschlagspläne rund um Weihnachten und Silvester auf den Wiener Stephansdom und den Kölner Dom etwa dürften vom ISKP ausgegangen sein. In Deutschland und den Niederlanden kam es schon vergangenen Sommer zu insgesamt neun Festnahmen. Eine vermutete ISKP-Terrorgruppe, die überwiegend aus Tadschiken bestand, hatte zuvor einen Kölner Jahrmarkt (Kölner Kirmes) als mögliches Anschlagsziel ausgespäht. Auch die drei Verdächtigen aus Österreich – 15, 18 und 20 Jahre alt –, die im vergangenen Juni einen Anschlag auf die Wiener Regenbogenparade geplant haben sollen, werden einer einschlägigen Telegram-Gruppe des ISKP zugerechnet.

Al-Kaida

Das Terrornetzwerk, einst verantwortlich für die Anschläge von 9/11 in den USA, war zwar nie wirklich verschwunden. Der Aufstieg des IS und dessen Ausrufung eines Kalifats 2014 hatten Al-Kaida aber zunehmend in den Hintergrund gerückt. Mit großer Sorge betrachten österreichische Sicherheitskreise derzeit eine Art "Rückkehr" der Jihadisten. Zum Jahreswechsel veröffentlichte die Terrororganisation auf ihren Kanälen ein fast 46-minütiges Video mit bedrückendem Inhalt. DER STANDARD konnte es einsehen.

Darin nimmt Al-Kaida Bezug auf den Nahostkonflikt und ruft zu Anschlägen in den USA und Europa auf – im Speziellen werden Frankreich und Großbritannien hervorgehoben. In dem Video sind allerdings auch eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Bombenbau enthalten sowie Tipps zum Umgehen der Flugzeugsicherheit.

Internationale Vernetzung

Auch die internationale Koordination zwischen Jihadisten wird zur großen Sorge des Staatsschutzes immer leichter. Über Telegram und Co werden nicht nur verschiedenste Anleitungen zum Bombenbau verschickt, erfahrene Kader bereiten dort auch potenzielle, meist junge Attentäter auf einen Anschlag vor.

Schon in der Vergangenheit zeigte sich, dass Jihadisten aus Österreich, aber auch von Angesicht zu Angesicht internationale Kontakte pflegten. Etwa der Wiener Attentäter K. F., der am 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen erschoss und etliche weitere verletzt hatte. Im vorangegangenen Sommer machten sich extra Jihadisten aus Deutschland und der Schweiz auf, um K. F. und Gleichgesinnte in Wien zu treffen.

Ein jüngerer Fall betrifft offenbar jene drei bereits erwähnten Burschen, die einen Anschlag auf die Wiener Regenbogenparade geplant haben sollen. Laut einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers ist der Auftrag dafür von einer ISKP-Zelle "abgesegnet" worden. Im laufenden Ermittlungsfahren in Österreich ist das noch nicht aufgeschlagen. Hierzulande soll zudem ein Tschetschene als Geldgeber für den ISKP in Deutschland fungiert haben. Und nicht zuletzt dürfte es auch rund um die mutmaßlichen Wiener Terrorpläne zu Silvester einen regen Austausch innerhalb der Terrorgruppe zwischen Österreich und Deutschland gegeben haben. Der koordinierende Kopf der ISKP-Terrorzelle soll sich wiederum in der Türkei aufhalten.

Ukraine

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 nutzen nicht nur dutzende Jihadisten des "Islamischen Staats Provinz Khorasan" diverse Fluchtrouten, um sich in Europa zu verteilen. Das Kriegsgebiet gilt auch als bedrohliches "Waffenlager".

"Wenn man in Richtung Ukraine schaut und sieht, dass hochmoderne Waffen im Spiel sind, wie Panzerabwehrgranaten, mit denen große Schäden angerichtet werden können, dann macht uns das schon Sorgen", sagte Österreichs oberster Staatsschützer, Omar Haijawi-Pirchner, vor bald einem Jahr im STANDARD. Vor allem wenn der Krieg vorbei sei, müsse überlegt werden, was mit den Waffen passiere, damit sie nicht "in falsche Hände" gerieten.

Vermutlich passiert das aber jetzt schon. Wie der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete, soll ein hochrangiger ISKP-Kader in Deutschland mit einem Waffendealer aus der Ukraine in Kontakt gestanden sein. Dieser habe dem Jihadisten angeblich eine Flugabwehrrakete um 5000 US-Dollar angeboten. Ob der Deal zustande kam, ist in dem Bericht nicht überliefert. Der mutmaßliche Dealer dürfte aber öfter nach Deutschland reisen, "um hier Waffen zu veräußern". (Jan Michael Marchart, 7.1.2024)