Eshkol Nevo zählt zu den bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellern Israels. Seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober fällt ihm das Schreiben schwer, sagt Nevo im STANDARD-Gespräch. Daher leitet er Schreibworkshops – für Überlebende des 7. Oktober. Außerdem erklärt der Autor im Interview, warum er in Israel bleiben will, und spricht über Veränderungsprozesse und Schuldfragen, die auch in seinem jüngsten Roman ein wichtiges Thema sind.

Eshkol Nevo
Eshkol Nevo, geboren 1971, zählt zu den bekanntesten israelischen Schriftstellern. Sein letzter Roman "Trügerische Ansichten" war in Israel das erfolgreichste Buch des Jahres 2022. Mitte Mai erscheint es bei dtv auf Deutsch.
Bogenberger Autorenfotos

STANDARD: Nach dem 7. Oktober überfiel angesichts des Horrors viele Menschen in Israel eine große Sprachlosigkeit. Wie lebt man als Literat, wenn einem die Sprache abhandenkommt?

Nevo: Seit fünf Monaten schreibe ich gar nicht. Zumindest keine Fiktion. Ich kann es einfach nicht. Was ich schreibe, sind fast tagebuchartige Essays für Zeitungen, in Italien und in Deutschland. Sonst nichts.

STANDARD: Warum fällt es Ihnen schwer, sich ins Reich des Fiktiven zu begeben?

Nevo: Die Realität ist zu stark, zu erschlagend. Da ist es schwer, sich etwas anders vorzustellen. Vielleicht braucht es auch einfach noch Zeit. Ich habe oft dramatische Ereignisse in Israel in meiner Literatur verarbeitet, aber es hat immer ein paar Jahre gedauert, bis ich es verdaut hatte und darüber schreiben konnte. Über den Mord an Rabin (dem früheren Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, Anm.) schrieb ich erst sieben Jahre später.

STANDARD: Läuft man als Literat Gefahr, zum bloßen Chronisten zu werden, wenn man zu nah an den Ereignissen schreibt?

Nevo: Man ist einfach von der unmittelbaren Erfahrung zu sehr überwältigt. Ich glaube, man muss ein Minimum an Langeweile verspüren, damit sich im Kopf die Geschichten auftun. Meinen letzten Roman habe ich in der Pandemie geschrieben: Den ersten Teil im ersten Lockdown, im zweiten Lockdown den zweiten, im dritten Lockdown habe ich es fertig geschrieben. Und man merkt es dem Buch an. Es war so wenig los da draußen, dass in meinem Kopf jede Menge Drama entstand.

STANDARD: Heute ist das Gegenteil der Fall.

Nevo: Ja, heute ist jeder Tag voller Drama. Ich kenne so viele Leute, die jetzt eingerückt sind. Auch meine Tochter ist jetzt in der Armee, im Süden Israels – aber sie ist dort in relativer Sicherheit. Der Kibbutz im Norden, wo unser Wochenendhaus steht, wurde evakuiert, das Haus steht leer, überall sind nur Soldaten und Panzer, und ich habe keine Ahnung, wann und ob wir je wieder dorthin fahren können. Das ist auch ein Faktor: Wenn man sich die ganze Zeit Sorgen macht, ist es schwer, sich Geschichten auszudenken. Geschichten fußen ja oft auf realen Erlebnissen oder Beobachtungen, die dann ins Extreme getrieben werden. Was am 7. Oktober geschah, ist so extrem, dass man es nicht steigern kann.

STANDARD: Wie verbrachten Sie die Zeit nach dem 7. Oktober?

Nevo: Das Erste, was wir mit meiner Schule des Kreativen Schreibens (in Tel Aviv, Anm.) gemacht haben, war ein offenes Schreibtreffen für alle, die ihre Gefühle loswerden wollten, es war kostenlos und frei zugänglich via Zoom. Wir wussten überhaupt nicht, wie es laufen würde – die Menschen waren ja total traumatisiert. Und dann waren mehr als dreihundert Leute da, alle waren eigenartig blass. Ich bat sie, einen Moment in all dem Wahnsinn zu beschreiben, in dem sie so etwas wie Großzügigkeit spürten. Dann war es vier, fünf Minuten lang still – und dann prasselte es nur so von Erzählungen. Sie beschrieben Augenblicke von Mitgefühl, gegenseitiger Hilfe, ganz einfache Dinge. Es war beeindruckend. So habe ich die vergangenen fünf Monate verbracht: Schreibgruppen anleiten und Lesungen mit trostspendenden Texten machen. Einmal kam ich zur Reha-Klinik für verwundete Soldaten. Ein Raum voller Menschen, niemand hat alle zwei Arme und zwei Beine. Aber wenn es dir gelingt, sie zum Lachen zu bringen, ist das schon viel. Im Moment leite ich eine Gruppe von Frauen aus Kfar Aza (ein Kibbutz im Süden Israels, der von der Hamas völlig verwüstet wurde, Anm.). Das ist extrem stark.

STANDARD: Das fiktive Schreiben macht Ihnen in diesen Zeiten Schwierigkeiten. Zugleich ist das Reale vor unseren Augen so unbeschreiblich, dass kein Wort ihm gerecht wird. Wie schaffen Sie es, trotzdem noch an Essays zu arbeiten?

Nevo: Ich versuche den Zeitungslesern in Italien und Deutschland zu vermitteln, was hier auf der emotionalen Ebene passiert. Ich bin kein Experte in Sicherheitsfragen, habe ehrlich gesagt auch jedes Vertrauen in eine politische Lösung verloren. Ich kann nur die gefühlsmäßigen Reaktionen beschreiben.

STANDARD: Wie lebt man als Vater von drei Töchtern, wenn man das Vertrauen in eine politische Lösung verloren hat? Wie wünschen Sie sich das Israel, in dem Ihre Töchter leben werden, wenn sie so alt sind wie Sie?

Nevo: Das ist eine schwierige Frage. Ich weiß nicht, ob ich eine Antwort habe. Viele in Israel sprechen übers Auswandern. Sie organisieren sich Zweitpässe, damit ihre Kinder anderswo aufwachsen. Ich hätte gerne, dass sie in Israel bleiben. Es ist so hart, ein Ausländer zu sein, egal ob in Berlin oder in Wien. Als Erfahrung für eine Zeitlang – klar, sofort. Aber für immer? Man hat doch die Wurzeln hier, die Sprache. Ich war am 7. Oktober in Italien, und meine Freunde sagten: Bitte bleib dort, komm nicht zurück. Aber ich konnte es nicht erwarten zurückzukommen. Ich weiß, es ist ein verrückter Ort. Und natürlich wünsche ich meinen Töchtern, dass es eine Konfliktlösung gibt. Aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.

Proteste in Tel Aviv
Tel Aviv als Schauplatz von Protesten gegen die Regierung Netanjahus. Eshkol Nevo: "Ich habe viele Freunde und Familienmitglieder, die gar nicht glücklich waren, dass ich demonstrieren war. Aber wir essen und trinken trotzdem gemeinsam."
AFP/MARCO LONGARI

STANDARD: In Ihrem jüngsten Roman "Trügerische Anziehung" spielen Schuld und Verantwortung eine große Rolle. Die Charaktere hadern mit ihrer Verantwortung, sie versuchen, ihre Unschuld beweisen. Schuld ist auch in Israel nach dem 7. Oktober ein großes Thema.

Nevo: Im Roman legen die Charaktere Geständnisse ab, aber immer müssen wir uns fragen, können wir ihnen vertrauen? Vielleicht manipulieren sie uns. Jedes Geständnis enthält Indizien dafür, dass die Schuld vielleicht ganz anders verteilt ist. Nach dem 7. Oktober sehe ich in Israel zwei Arten von Schuld. Erstens die Schuld der Überlebenden, die sich fragen: Wie können wir weiterhin unsren Alltag leben, während Leute sterben oder als Geiseln gefangen sind? Zweitens die Schuld der Menschen, die sich nach ihrer moralischen Verantwortung fragen für das Leid in Gaza. Unmittelbar nach dem 7. Oktober war dafür kein mentaler Raum. Jetzt ändert sich das langsam – zumindest bei denen, die CNN oder BBC schauen, das israelische Fernsehen zeigt ja nicht viel vom Leiden auf der anderen Seite. Und ich gebe zu, dass es keine große Masse an Menschen in Israel ist, die sich diese Fragen stellt.

STANDARD: Aber Sie tun es?

Nevo: Ich stelle mir die Frage, wie es uns gelingen kann, menschlich zu bleiben. Wie kann man die Hamas bekämpfen, ohne selbst irgendwann der Hamas immer ähnlicher zu werden? Diese Fragen stehen im Raum. Wenn wir gleichgültig gegenüber dem Leiden der anderen werden, unterscheidet uns wenig von ihnen.

STANDARD: Begegnen Ihnen diese Schuldfragen auch in den Schreibgruppen, die Sie mit den Überlebenden des 7. Oktober leiten?

Nevo: Eine faszinierende Übung, die wir in der Gruppe gemacht haben, heißt "Es ist okay, dass ich ...". Die Teilnehmenden sollten spontan diesen Satz beenden, und die gegensätzlichsten Dinge sind dabei herausgekommen: Es ist okay, dass ich weine. Es ist okay, dass ich nicht weine. Es ist okay, dass ich nachts nicht schlafe. Es ist okay, dass ich nachts schlafe. Es ist okay, dass ich auf eine Party gehe, es ist okay, dass ich nicht okay bin, es ist okay, dass ich lebe.

STANDARD: In Ihrem jüngsten Roman geht es unter anderem um einen Mann, der nahe einem Outdoor-Trancefestival spazieren geht und plötzlich verschwindet. Sofort kommt der Verdacht auf, dass er gekidnappt wurde. Sie haben den Text in der Pandemie verfasst – aber nach Hamas-Überfall auf das Trance-Festival in Re’im im Süden Israels liest sich das verblüffend aktuell.

Nevo: Ja, das ist mir auch in Frankreich begegnet, wo das Buch erschienen ist. Die Leute haben so viele Fragen dazu gestellt. Eigentlich geht es in dem Kapitel ja um Gender, um Mann und Frauen, um sich auflösende Grenzen – und nicht um den Terroraspekt. Aber jetzt ist es schwer, es anders zu lesen.

STANDARD: Vor einem Jahr gab es in Israel die Befürchtung, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Ist diese Angst angesichts des Gazakriegs verflogen?

Nevo: Ich muss sagen, ich hatte sie nie. In meiner Schule für Kreatives Schreiben haben wir mit allen Segmenten der israelischen Gesellschaft zu tun – auch mit den Ultraorthodoxen, auch mit israelischen Arabern. Dank unserer Fördergeber können wir diese Workshops kostenfrei anbieten. Und mein Gefühl ist, dass es keine Grundlage für einen Bürgerkrieg gibt. Wir sind viel zivilisierter, als unsere Politiker von uns denken. Ich habe viele Freunde und Familienmitglieder, die nicht glücklich waren, dass ich (gegen Netanjahus Regierung, Anm.) demonstrieren war. Aber wir essen und trinken trotzdem gemeinsam. Sie sind rechtsgesinnte Bibi-Fans, aber das ist okay – ich liebe sie trotzdem.

STANDARD: In Ihrem Roman gibt es mehrere Charaktere, die früher streng religiös waren und jetzt säkular sind. Was fasziniert Sie daran?

Nevo: Es ist ein Riesending in Israel, ich nenne es "das Spektrum". Jeder ist auf dem Spektrum zwischen religiös und säkular, und viele pendeln hin und her. Ich habe Freunde, die religiös geworden sind, und Freunde, die früher religiös waren und sich jetzt in säkularen Kreisen bewegen. Mich faszinieren diese Wandlungen. Der Weg von religiös nach säkular und umgekehrt ist ein dramatischer Veränderungsprozess, der viel Kraft verlangt. Da gibt es die vielen Ambiguitäten dazwischen – und die sind für das literarische Schreiben ergiebig. Insofern ist Israel ein hervorragender Ort, um Schriftsteller zu sein. (Maria Sterkl, 31.3.2024)

Cover Eshkol Nevo
Eshkol Nevo, "Trügerische Anziehung". € 25,50 / 304 Seiten. dtv-Verlag, München 2024. Erscheint am 16. Mai.
dtv Verlag