Im Leben eines Menschen stellen sich mit dem Erreichen des fortgeschrittenen Alters von 75 Jahren existenzielle Fragen. Sie oder er hat in der Regel einiges Auf und Ab erlebt. Was kommt noch? Ist jemand noch einigermaßen gesund oder gar "rüstig", wie man landläufig sagt? Welche Veränderungen stehen an?

Nicht umsonst feiern wir gerne Jubiläen. Das bietet gute Gelegenheit zur Rückschau, zur Reflexion, zur Selbstvergewisserung. Bei Staaten oder internationalen Organisationen ist das nicht viel anders, auch wenn diese mit 75 im Vergleich eigentlich noch relativ jung sind.

Jens Stoltenberg, Zeremonienmeister zum 75. Geburtstag der Nato.
AFP/KENZO TRIBOUILLARD

Der Jahrestag "30 Jahre EU-Beitritt", der in Österreich am 1. Jänner 2025 ansteht, wäre zum Beispiel auch eine Gelegenheit, gründlich zu überlegen, wie der Staat dasteht – und wo das Land mit seiner Neutralität in Zukunft hinwill auf diesem unruhig gewordenen Kontinent.

Die neue Bundesregierung könnte 2025 zum Beispiel ausnahmsweise tiefgehend über das sicherheitspolitische Konzept der Republik nachdenken lassen: etwa über europäische Souveränität statt über nationale Leitkultur. Über eine künftige Rolle in einem EU-Militärbündnis oder gar den Nato-Beitritt.

Es sieht nämlich ganz danach aus, dass alle diese Fragen auf Europa mit aller Härte zukommen, sollte Russland die Ukraine weiter langsam zermürben und mit Donald Trump wieder ein US-Präsident an die Macht kommen, dem die Nato und der Schutz der Europäer relativ unwichtig sind.

Globale Änderungen

Dann bliebe sicherheitspolitisch in Europa kein Stein auf dem anderen. Globale Änderungen lassen sich nicht aussitzen. So war das auch 1989 und 1991, als der Kalte Krieg endete und die großen sicherheitspolitischen Player in der Welt bzw. die Nato und die EU in Europa eine neue "europäische Sicherheitsarchitektur" bauten. Man war in den Jahren danach relativ optimistisch, dass sich Demokratie und Freiheit endgültig global durchsetzen würden.

Leider war das ein Irrtum. Daher ist das relativ friedliche Zwischenspiel, das Europa bis vor kurzem genoss, zu Ende. Das transatlantische Bündnis feiert seinen 75er und muss sich existenziellen Fragen stellen.

Die Geschichte schläft nicht. Schon gar nicht hat sie ein Ende, wie viele nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der harten Ost-West-Konfrontation 1991 geglaubt und gehofft hatten. Putins Krieg in der Ukraine hat den Europäern vor Augen geführt, dass sie – ob sie wollen oder nicht – selbst viel mehr für ihre Sicherheit sorgen müssen, als das bisher geschehen ist. Die europäischen Nato-Staaten sind alles andere als "rüstig". Es steht ihnen eine Neuordnung ihrer Armeen ins Haus, die über alles hinausgeht, was man sich bisher vorstellen konnte und wollte.

Das wird mit Sicherheit enorme Summen an Investitionen in Rüstung und Ausrüstung erforderlich machen. Es muss viel mehr Kooperation der nationalen Armeen untereinander geben.

Bis die europäischen Partner aber so weit sind, ohne die USA selbst für Schutz und Sicherheit zu sorgen, werden eher Jahrzehnte als Jahre vergehen. Beim "100er" der transatlantischen Allianz wird man vielleicht so weit sein. Aber vorläufig gilt in Europa: Ohne die Nato geht es nicht, und das bedeutet auch, dass es ohne die USA keine echte Sicherheit gibt. (Thomas Mayer, 4.4.2024)