Österreich, Korruption Collage: derStandard/Friesenbichler Fotos: Imago, APA (3), AdobeStock (2)
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Die steirische FPÖ ist in einen Finanzskandal verstrickt?" Der junge Student schaut verdutzt. "Sollten wir das wissen?", fragt er. Der angehende Mediziner sitzt mit Freunden im Gastgarten eines Lokals hinter der Grazer Oper. "Ein Finanzskandal? Wirklich?" Seit zwei Jahren wird gegen führende FPÖ-Politiker der Steiermark und der Stadt Graz ermittelt. Es geht um mögliche Untreue; Klubfördermittel, die in die Taschen von Politikern geflossen sein sollen. Ständig werden neue Vorwürfe laut. "In Graz?", fragt jetzt ein anderer Student. "Keine Ahnung." Die blaue Affäre in der Heimatstadt der fünf jungen Studierenden am Tisch ist an ihnen vorübergegangen.

Einige Hundert Meter weiter mustert eine weißhaarige Frau die Frühlingskollektion im Schaufenster eines Modegeschäfts und muss bei der Frage nach dem Grazer FPÖ-Kriminalfall schmunzeln: "Natürlich hab ich davon gehört, aber das interessiert mich nicht", sagt sie. "Ich mag den Nachrichten gar nicht mehr zuhören." Korrupt, meint die Frau, seien "die" doch sowieso alle.

Ein Mann mittleren Alters, helles Hemd, Jeans, Sakko, ist auf dem Weg zum Grazer Hauptplatz. Korruption? "Da könnte ich ein Buch darüber schreiben", sagt der Unternehmer. "Wir sind eine Bananenrepublik." Das beginne im Kleinen, wisse er aus eigener Erfahrung: "Wenn es um Aufträge geht, muss man sich etwas einfallen lassen." Er meint: Essenseinladungen, Reisen, Hotelaufenthalte. "Je größer das Geschäft, desto mehr musst du bieten", gibt er unverhohlen zu.

Wer Menschen auf der Straße zuhört, kann das Gefühl bekommen: Korruption? Daran haben wir uns gewöhnt.

Tatsächlich kam es zuletzt zu einer Häufung an politischen Skandalen, die unter dem Überbegriff Korruption laufen: Ibiza, die Inseratenaffäre rund um Sebastian Kurz, der steirische Finanzskandal, der Spesenskandal der Wiener FPÖ. Im Kleinen kamen die Immobiliendeals des unersättlichen ÖVP-Bürgermeisters von Grafenwörth hinzu, die SPÖ laboriert an ihrer Kleingartenaffäre. Wird Österreich immer korrupter?

Wenn Korruption Gewohnheit ist

Gefühlt: ja. Das beweist der jährliche Corruptions Perception Index von Transparency International, für den Menschen befragt werden, wie intensiv sie Korruption in ihrem eigenen Land wahrnehmen. Österreich rutscht seit dem Jahr der Ibiza-Affäre 2019 kontinuierlich ab, liegt inzwischen auf Platz 20 – deutlich abgeschlagen hinter Deutschland, der Schweiz und den skandinavischen Ländern. Österreich liegt auch hinter Singapur, Hongkong und Uruguay.

"Man ist die Korruption ja schon gewohnt, drum regt sich auch keiner mehr auf", sagt der Grazer Unternehmer. Die steirische Finanzaffäre hat inzwischen auch FPÖ-Landesparteichef Mario Kunasek erfasst, blauer Landeshauptmannkandidat für die Landtagswahl im November. Glaubt man den Umfragen, könnte die FPÖ diese Wahl trotz allem gewinnen. Korruption, Affären, Skandale – eh alles wurscht?

2023 hat DER STANDARD vom Linzer Market-Institut die Meinung der Bevölkerung zum Thema Korruption erheben lassen. Fast jeder Vierte hält Österreich für "sehr korrupt" weitere 38 Prozent für "korrupt". Lediglich drei Prozent der Befragten befinden Österreich für gar nicht korrupt.

Schauplatzwechsel nach Niederösterreich: Grafenwörth wäre ein ganz normales Dorf, wäre da nicht "Mini-Dubai". Die Reißbrett-Siedlung rund um einen künstlich angelegten See ist aktuell noch eine Baustelle. Lkws und Bagger kurven am Wasser entlang, erst 29 der 206 geplanten extravaganten Würfelhäuser sind fertig. Bürgermeister Alfred Riedl (ÖVP) hat mit der Umwidmung dafür persönlich ein Riesengeschäft gemacht. Der Skandal hat ihn letztlich das Amt des Gemeindebund-Präsidenten gekostet – Bürgermeister von Grafenwörth ist er bis heute.

Das Mini-Dubai in Grafenwörth.
Wojciech Czaja

Die Grafenwörther sagen dazu: wenig. Wer am Nachmittag durch den Ortskern spaziert, kann zu dem Schluss kommen, die Affäre sei den meisten Menschen hier egal.

Eine Frau hat gerade frisches Gebäck in die Tasche ihres E-Bikes gepackt. Über den Bürgermeister reden? "Da haben Sie die Falsche erwischt, mich interessiert das überhaupt nicht!" Obwohl Riedls Deals österreichweit diskutiert wurden? "Na eben deswegen."

Ein Unternehmer in der Marktgemeinde, ein enttäuschter Grünen-Wähler, ist noch direkter: "Die meisten Leute interessieren sich gar nicht für Politik. Weil 70 Prozent der Österreicher einfach deppert sind", sagt er. Und Riedls Grundstücksgeschäfte? "Das ist jedem wurscht. Es haben ja alle gewusst."

Nachsicht mit Politikern

Und dann sagt der Mann etwas, das – auch wissenschaftlich belegt – recht klassisches Verhalten darstellt: Er sei zwar kein Riedl-Fan, sagt er, aber der Bürgermeister nehme Dinge in die Hand und kümmere sich. "Wenn du die positiven und die negativen Sachen zusammenzählst beim Riedl, kommst du auf eine schöne, konstante Null."

"Die meisten Menschen lehnen Korruption grundsätzlich ab, bei einzelnen Politikern sind sie aber nachsichtiger." – Sofia Breiteinstein, Politikwissenschafterin an der Universität Barcelona

Dieses Aufrechnen kennt Sofia Breitenstein sehr gut. Die Politikwissenschafterin an der Universität Barcelona forscht hinsichtlich der Frage: Warum wählen Leute korrupte Politiker? "Die meisten Menschen lehnen Korruption grundsätzlich ab, bei einzelnen Politikern sind sie aber nachsichtiger", sagt sie. Vor allem Parteianhänger entschuldigen Fehlverhalten "ihrer" Kandidaten eher. Und: "Wir rationalisieren unsere Wahlentscheidungen. Wenn wir eine eher zwielichtige Partei wählen, versuchen wir uns das selbst zu erklären." Etwa mit dem Stehsatz: "Die" – also die Politiker – "sind eh alle korrupt."

"Egal, was du ankreuzt bei der Wahl, es kommt immer das Gleiche raus." – Frau aus Grafenwörth

In Grafenwörth, zwei Kreisverkehre vom Bürgermeisterbüro entfernt, tratscht eine Frau vor dem Supermarkt mit einer Bekannten. Über ihr Bild von Politikern will sie aber nicht sprechen: "Da werd’ ich ausfällig!" Die Frau, die vor der Post eine Zigarette raucht, flüchtet sich in Plattitüden: "Egal, was du ankreuzt bei der Wahl, es kommt immer das Gleiche raus." Warum das so ist? "Weil’s immer schon so war!"

Damit hat sie nicht ganz unrecht. Korruption ist kein neues Phänomen. Schon 1989 sang Rainhard Fendrich: "Durch eine großzügige Spende kriegt man am Ende fast jedes Großprojekt." Den Tango Korrupti tanzten damals viele, die Affären hörten auf Namen wie Lucona, AKH oder Noricum. 2011 wurde mit Werner Faymann (SPÖ) erstmals gegen einen amtierenden Bundeskanzler ermittelt. Mit Steuern bezahlte Inserate dienten dem roten Politiker als Werbefläche, das Verfahren wurde aber eingestellt. Politisch schadete die Sache Faymann nicht, die Partei drängte ihn erst Jahre später nach einem schlechten Wahlergebnis aus dem Amt.

Scharfe Gesetze, schlechtes Gefühl

Es ist ein Paarlauf entgegengesetzter Entwicklungen, der sich beobachten lässt: Ermittler und Medien werden immer sensibler, was krumme Geschäfte von Mächtigen betrifft. Auch die Gesetze wurden mehrfach verschärft. Womöglich war die Republik noch nie so sauber wie jetzt. Gleichzeitig entsteht in der Bevölkerung der Eindruck: Ständig passiert etwas. Und die Menschen stumpfen ab.

Arnd Florack bestätigt das. Es könne der Eindruck entstehen, Korruption ist ein Teil der sozialen Landschaft, sie gehört irgendwie "halt dazu", sagt der Professor für angewandte Sozialpsychologie und Konsumentenverhaltensforschung an der Universität Wien. Das führe aber auch dazu, dass die Grenze zwischen akzeptablen Verhalten und Korruption verschwimme. "Wenn Personen schon selbst minimalste Schritte getan haben, dann wird auch die Einstellung zu Korruption positiver", sagt Florack. Eine Konsequenz daraus sei, "dass Korruption mitunter gar nicht als Korruption wahrgenommen wird".

Es gibt Studien, die das durch Korruption versickerte Geld beziffern. Was sich nicht messen lässt: dass uns alle die große Korruption ein bisschen korrupter machen könnte.

Krumme Geschäfte und undurchsichtige Politik. Ständig passiert etwas. Dabei war die Republik womöglich noch nie so sauber wie jetzt.
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Der Krisenkommunikationsexperte Martin Zechner beobachtet etwa, dass Fehlverhalten in der Industrie "mehr egal" geworden ist. "Aufgrund der vielen prominenten Fälle ist in Österreich eine Art Normalisierungstendenz bei Compliance-Vergehen eingetreten", erzählt er. Das öffentliche Reputationsrisiko halte Unternehmen oft davon ab, konsequent gegen rechtswidrige Handlungen von Mitarbeitenden vorzugehen.

Zurück nach Grafenwörth. Auf einem Supermarktparkplatz sitzt ein ratloser ÖVPler im Auto, während die Frau den Einkauf erledigt. Er ist enttäuscht von Sebastian Kurz, den er einst eifrig unterstützt hat. Gut vernetzt und machtbewusst zu sein, das sei legitim. "Aber dass es so weit geht, hätt’ ich nicht gedacht." Wen er jetzt wählt? Wisse er nicht.

Dieses Problem kennt die Korruptionsforscherin Breitenstein: "Wir können die Verantwortung nicht den Wählerinnen alleine umhängen", sagt sie. Korrupte Politiker könnten nicht bloß durch Wahlen abgestraft werden, Justiz und Gesetzgeber müssten dafür sorgen, Korruption zu verhindern.

In Österreich laufen derzeit unzählige Ermittlungen gegen aktive und ehemalige Politiker. Einen Vorteil bringe das, erklärt Breitenstein, denn: "Je mehr Korruptionsfälle verfolgt werden, desto weniger Anreiz haben Politiker, korrupt zu sein." (Sebastian Fellner, Katharina Mittelstaedt, Walter Müller, 6.4.2024)