Haitianische Polizeikräfte bei Gefechten nahe des Präsidentenpalastes.
Haitianische Polizeikräfte bei Gefechten nahe dem Präsidentenpalast.
REUTERS/Ralph Tedy Erol

Er wünsche den Menschen in Haiti nur das Allerbeste, sagt Jean-Marc Biquet. Doch Hoffnung, dass es wirklich dazu kommt, hat er kaum. Der Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Karibikstaat hat die Turbulenzen und Gewaltausbrüche der vergangenen Wochen hautnah mitbekommen – die Eskalation begann Anfang März, die das ohnehin schon dauerkriselnde Land noch mehr ins Chaos gestürzt hat.

"In den sozialen Medien haben wir damals mitbekommen, dass sich die verfeindeten Banden vereinigen wollten", sagt Biquet dem STANDARD. Grund für diesen ungewöhnlichen Schritt war die Ankündigung von Regierungschef Ariel Henry, Wahlen einmal mehr zu verschieben. Der 74-Jährige ist das Feindbild vieler Haitianer. Seit der bis heute nicht restlos aufgeklärten Ermordung von Präsident Jovenel Moïse 2021 regiert er als Interimspremier und nimmt auch die Amtsgeschäfte des Präsidenten wahr. Eine demokratische Legitimität besitzt er bis heute nicht, die Durchführung von Wahlen oder die Bildung einer Übergangsregierung hat er bisher erfolgreich sabotiert.

"Symbol" für die Schwäche des Staates

Anfang März wollten die Banden, die zuvor schon große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollierten, dies nicht mehr tolerieren. Während Henry sich auf einer Auslandsreise befand, griffen sie Polizeistationen an, sogar Spitäler, und befreiten tausende Häftlinge aus Gefängnissen. Vor allem Letzteres, so Biquet, "war ein Symbol dafür, dass der Staat wieder einmal verschwindet". Der Staat, der seit Jahrzehnten durch Alleinherrschaft, Misswirtschaft, Korruption und diverse Naturkatastrophen geschwächt wurde, hat den nächsten schweren Schlag verkraften müssen. Und Besserung ist nicht in Sicht.

Zunächst forderten die Banden von Henry, den sie nicht mehr ins Land lassen, den Rücktritt. Am 11. März kündigte er diesen tatsächlich an, sobald ein präsidialer Übergangsrat gebildet wird. Jener Rat, so der Plan, soll dann einen Interimspremier samt Interimsregierung ernennen und einen Wahlrat etablieren, der die ersten Wahlen seit 2016 vorbereitet.

"Revolution" gegen die Eliten

Doch während ein offizieller Termin für die Einsetzung des Übergangsrats immer noch aussteht – Gerüchten zufolge könnte es noch diese Woche soweit sein –, haben die Banden rund um Anführer Jimmy Chérizier weiter an der Eskalationsspirale gedreht. Immer wieder spricht er von einer "Revolution" gegen die Eliten, ohne zu verraten, was das im Detail bedeuten soll. Mit eine Rolle dürfte aber spielen, dass Bandenakteure wie er nicht Teil des Übergangsrats sein dürfen. Zudem ist eine UN-Eingreiftruppe geplant, die in Haiti für Ordnung sorgen soll – das wäre gleichbedeutend mit einem Machtverlust der Banden.

Und so wird auch mehr als sieben Wochen nach der großen Eskalation weiter gekämpft. Die Banden versuchen vor allem, den Präsidentenpalast im Zentrum von Port-au-Prince zu erobern, sagt Biquet. "Wenn sie das schaffen, wäre das ein weiteres Symbol, dass die Banden den Staat übernehmen." Schon jetzt kontrollieren sie 90 Prozent der Hauptstadt, aus der in den vergangenen Wochen mehr als 360.000 Menschen geflüchtet sind.

Mehr Autounfälle

MSF hat trotz der Gefahren seine Ressourcen in Port-au-Prince ausgebaut, um die vielen Opfer der zunehmenden Gewalt behandeln zu können. In ihrem Spital im Stadtviertel Tabarre etwa wurde die Bettenkapazität von 50 auf 75 erhöht. "Wir haben mehr Patienten mit Schusswunden. Und viele haben sich bei Verkehrsunfällen verletzt. Sie wollen so schnell wie möglich aus Port-au-Prince flüchten, und in dem Chaos und in der Eile kommt es zu Unfällen", sagt Biquet.

In der Hauptstadt gebe es gefährliche und relativ sichere Stadtteile, sagt Biquet. MSF ist in letzteren Bezirken stationiert, trotzdem können die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seit Jahren nicht einfach so auf die Straße gehen, das sei zu gefährlich. "Das Risiko einer Entführung ist zu groß, das ist fast schon ein Nationalsport hier", so der Einsatzleiter.

Die größte Sorge für Biquet sind die Vorräte, also Lebensmittel, Trinkwasser und medizinisches Equipment, um die Patienten versorgen zu können. Denn die Häfen und die Flughäfen werden von den Banden blockiert. "Wir haben unsere letzte Lieferung Anfang März bekommen", so Biquet. Damit komme man zwar noch eine Weile durch, aber MSF arbeitet daran, über die benachbarte Dominikanische Republik auf dem Landweg versorgt zu werden – wenn es die Sicherheitslage zulässt.

Kaum Treibstoff, kaum Nahrung

Versorgung wird neben der Gewalt auch für die gesamte Bevölkerung zum immer drängenderen Problem. Maria Isabel Salvador, UN-Sonderbeauftragte für Haiti, erklärte am Montag vor dem UN-Sicherheitsrat, dass die Hälfte der mehr als elf Millionen Menschen im Land unter akuter Ernährungsunsicherheit leide. Jüngst haben bewaffnete Männer, vermutlich Bandenmitglieder, wieder den wichtigsten Treibstoff-Importterminal beschlagnahmt und seine Schließung gefordert. Ohne Treibstoff können in Haiti zum Beispiel Spitäler nicht weiterbetrieben werden.

Wie es für Haiti weitergeht, ist unklar. Was passiert, wenn der Übergangsrat endlich steht und einen Interimspremier samt Regierung ernennt? "Ich gehe davon aus, dass die neue Regierung dann mit den Banden verhandeln wird. Was herauskommt, wird man sehen", so Biquet, für den in Haiti nur eins sicher zu sein scheint: "Jeden Tag gibt es eine neue Überraschung." Das waren allerdings schon lange keine guten mehr. (Kim Son Hoang, 23.4.2024)