Als am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht kapitulierte, fand der Zweite Weltkrieg in Europa sein offizielles Ende. Die schrecklichen Gräueltaten des Nationalsozialismus nahmen Einzug in die Geschichtsbücher. Bis heute werden sie weitergetragen. Von jenen, die überlebt haben. Von jenen, die sich dafür einsetzen, dass es nie wieder so weit kommt.

Nur noch 17 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zählt Erinnern.at auf seiner Website

Doch die Zahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Geschichten weitertragen, die den Opfern ein Gesicht geben und versuchen, Schülerinnen und Schülern zu erklären, was denkunmöglich scheint, schrumpft von Jahr zu Jahr. Mittlerweile zählt Erinnern.at, das von der OeAD, Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung, durchgeführte Programm zum Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust sowie der Prävention von Antisemitismus durch Bildung, nur noch 17 Menschen, die etwa in Schulen gehen und dort ihre Erlebnisse weitergeben. 200 Schulbesuche wurden im vergangenen Jahr durchgeführt. "Der Bedarf kann abgedeckt werden, auch wenn es zunehmend schwieriger geworden ist, da viele der Überlebenden, die sich als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen engagieren, bereits über 90 sind", sagt Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenprogramms von Erinnern.at.

Jüngere Erzählungen

Gerade jüngere Überlebende, die Anfang der 1940er-Jahre geboren sind, hätten bislang noch gezögert, in Schulen zu gehen, berichtet Demmer. Die Jüngeren würden der sogenannten "ersten Generation" Überlebender "nicht in die Quere kommen wollen", erzählt die Expertin. Sie fühlten sich aber mit dem zunehmenden Ableben derselben und auch aufgrund der weltpolitischen und gesellschaftlichen Ereignisse der vergangenen Jahre, Kriege und Fluchtbewegungen, Verunsicherung der Gesellschaft und Jugend, dazu angeregt, über das Schicksal der eigenen Familie zu berichten und daran "aus erster Hand als Nachkomminnen und Nachkommen zu erinnern", erzählt die Expertin.

Um aber auch die persönlichen Erfahrungen der Älteren zu bewahren, wurden über das Projekt "weiter erzählen" 208 Videos von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufgenommen. Ab der achten Schulstufe setzen sich Schülerinnen und Schüler im Lehrplan Geschichte und Politische Bildung mit dem Nationalsozialismus auseinander und lernen etwa über den Holocaust und die Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus sowie über die verschiedenen Opfergruppen. "Im Zuge dessen wird eine Vielzahl an Möglichkeiten aufgezeigt, wie Lehrkräfte altersadäquat und mit der notwendigen Sensibilität im Unterricht darauf eingehen können", heißt es aus dem Bildungsministerium. Das Angebotsspektrum würde laufend erweitert. "Wir sorgen bereits im Rahmen der Lehrpläne dafür, dass sich Schülerinnen und Schüler intensiv mit dem Themenkomplex Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus beschäftigen und eine Botschaft immer wieder klar kommuniziert wird: Antisemitismus und Extremismus haben in unserer Gesellschaft und an unseren Schulen nichts verloren", betont Bildungsminister Martin Polaschek.

Kein Ersatz durch neue Medien

Trotzdem: Die persönliche Begegnung könne etwa durch ein Video niemals ersetzt werden, sagt Demmer: "Vor allem die affektiven und sozialen Aspekte sind hier von großer Bedeutung. Zeitzeuginnen- und Zeitzeugengespräche können das Einfühlungsvermögen von Schülerinnen und Schülern anregen und bleiben meist eine unvergessliche Erfahrung. Das schildern mir auch oft Erwachsene, die einmal einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin persönlich erleben durften."

Am 8. Mai 2023 sprach Zeitzeugin Anna Hackl auf der Bühne beim "Fest der Freude" auf dem Wiener Heldenplatz.
APA/GEORG HOCHMUTH

Wie können also diese Geschichten weitergegeben werden, wenn die Erzählerinnen und Erzähler nicht mehr sind? "Wir sehen in der Zusammenarbeit mit Nachkommen besondere Lernmöglichkeiten und möchten das gerne – soweit unsere Ressourcen es zulassen – verstärken", sagt Demmer. In einem Pilotprojekt sollen mit der Pädagogischen Hochschule Tirol, der Universität Klagenfurt und dem Verein "Doku Lebensgeschichten" an der Universität Wien Lernsettings und Lernmöglichkeiten mit Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter konzipiert werden. Gespräche mit Nachkommen könnten, so die Annahme, zu einem "Lernen über Erfahrungen mit Flucht, Exil und Rückkehr wie auch mit Antisemitismus, Rassismus oder Antiziganismus nach 1945 beitragen", sagt Demmer. Ausgrenzungs- und Diskriminierungskontinuitäten könnten sichtbar gemacht und besprechbar werden. "So kann auch die Aufarbeitung der Folgen der NS-Geschichte in den postnationalsozialistischen Gesellschaften in Deutschland und Österreich, die Erinnerungskultur der Staaten mit der familiären Aufarbeiten – Reden und Schweigen – in Verbindung gebracht werden."

Eine jener, die die Geschichte der eigenen Familie als Nachkommin weiterträgt, ist Milli Segal.

Begonnen zu erzählen hat sie vor beinahe 20 Jahren. 2006 organisierte sie erstmals die Ausstellung Für das Kind und führte auch Schulgruppen durch die Installation, die sich mit den Transporten jüdischer Kinder 1938 und 1939 nach England befasst. "Lehrende haben damals gefragt, wie das mit meiner Familie war", erzählt sie dem STANDARD. "Von der ersten Generation gibt es nicht mehr viele, jetzt muss die zweite erzählen, das wird immer wichtiger." Ihre Motivation: "Ich will damit niemanden belehren, aber ich tue etwas für diejenigen, die ich nicht kennengelernt habe, die getötet wurden."

Segal gibt weiter, was ihr Vater ihr erzählt hat. Lücken in ihrer Familiengeschichte seien da, die Recherche über die Vorfahren schwierig: "Meine Familie kommt aus kleinen Dörfern in den rumänische Karpaten sowie der Slowakei – da gibt es keine Dokumente mehr. Zeugnisse oder Geburtsscheine oder das, was mein Großvater väterlicherseits besessen hat, sind verschwunden", erzählt sie. Ihr Vater habe viel über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen. "Manchmal zu viel. Als Teenager will man das nicht hören."

Frage nach Überleben

Die Gespräche mit Schülerinnen und Schülern würden nicht nach einem gewissen Schema ablaufen, sie beginne, wo es ihr gerade einfalle: "Wo mein Vater, meine Mutter herkommen, wann sie deportiert wurden. Die Frage, die immer kommt: 'Haben Ihre Eltern überlebt?'" Ihre Eltern haben überlebt, 1954 wird Segal geboren. Viele andere Familienmitglieder wurden getötet. "Meine beiden Großmütter wurden in der Gaskammer ermordet, von den Geschwistern meines Vaters hat nur eine Schwester überlebt. Sie waren 14 Kinder."

Die Eltern haben 1938 geheiratet, 1940 kam ihre Schwester auf die Welt. "Als sie 14 Monate alt war, wurden sie im Ghetto Mogilev-Podolski/Transnistrien inhaftiert." Das Trauma der Shoah gab ihr Vater, wie so viele Holocaustüberlebende, an die nächste Generation weiter: "Als Teenager war es mir genug Erzählung – heute weiß ich, dass es auch für meinen Vater eine Art der Therapie war. Mit meiner Mutter wollte er nicht darüber sprechen, sie hat ihrer eigenen Mutter, meiner Großmutter, immer nachgetrauert. Man hat ihr in Auschwitz etwas Essenzielles genommen."

Warum Segal das persönliche Gespräch als wichtig erachtet? "Es fordert auf, direkt zu fragen. Das kann man bei einem Buch oder einem Video nicht. Die Fragen verdeutlichen auch dem Befragten etwas: dass man zuhört und Interesse hat."

Für Demmer von Erinnern.at macht es jedoch einen Unterschied, welche Generation erzählt. "Die Forschung zeigt, dass Enkelkinder und Großeltern andere Möglichkeiten für das Teilen von Erinnerungen und das Stellen von Fragen haben als Kinder und ihre Eltern. Viele Überlebende wollten lange nicht oder nie über ihr erlittenes Leid sprechen, um ihre Kinder zu schützen. Enkelkinder, sofern möglich, fragen "unbelasteter" nach und können oftmals unbefangener über ihre Familie sprechen", erklärt sie.

Rosa Schneeberger wird am Mittwochabend am Fest der Freude ihre Geschichte erzählen.
© Christian Fischer

Für eine "aktiv gelebte Erinnerungskultur und zur Prävention von antisemitischem Gedankengut" brauche es aber auch ein möglichst niederschwelliges Angebot für Schulen, um Gedenkstätten zu besuchen, sagt Polaschek. Das Bildungsministerium unterstützt seit diesem Schuljahr solche Besichtigungen. Zusätzlich dazu sollen mit dem Projekt "Derla – Digitale Erinnerungslandschaft" lokale Erinnerungsorte für Schülerinnen und Schüler sichtbar gemacht werden. "So schaffen wir einen persönlichen Lebensweltbezug“, findet Polaschek.

Digitale Landschaft

Das Projekt "Derla" des OeAD-Programms Erinnern.at, des Centrums für Jüdische Studien und des Zentrums für Informationsmodellierung der Universität Graz ist eine digitale Plattform, die selbstgeführte, aufbereitete Rundgänge zu Erinnerungsorten und "Erinnerungszeichen" der Opfer und Orte des Terrors des Nationalsozialismus in Österreich anbietet. Bisher fanden sich in der Karte Orte in fünf Bundesländern. Nun soll es auf ganz Österreich ausgedehnt werden. So sollen in Wien bis Anfang 2025 etwa 1600 Wiener Erinnerungsorte und rund 1500 Opferbiografien sichtbar gemacht werden, wie Polaschek bei einem Hintergrundgespräch verkündete.

"Es soll Erinnerungsorte und Erinnerungszeichen sichtbar machen, die in der unmittelbaren örtlichen Nähe der Schülerinnen und Schülern zu finden sind. Und damit gibt es auch ein deutlicheres Erleben von Geschichte", sagte der Minister. "Es ist ein großer Unterschied, ob man im Unterricht etwas hört über die Verbrechen, die sehr weit weg passiert sind, oder wenn man dann auf einmal hört, dass ein Opfer in der unmittelbaren Nachbarschaft gelebt hat oder eine Synagoge in unmittelbarer Nähe zerstört worden ist. Dann bemerkt man, dass Geschichte sehr, sehr, sehr greifbar ist."

Für Gerald Lamprecht, Leiter am Centrum für Jüdische Studien Graz, kommt dem Ort eine immer wichtigere Bedeutung zu. "In der Vermittlungsarbeit wurde seit den 1980er- und 1990er-Jahren die Erzählung der Zeitzeugen ganz stark ins Zentrum gerückt. Sie war zentral auf diese authentische Erzählung der Erlebnisgeneration aufgebaut. Biologisch ist es aber auch so, dass die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in Schulen gehen können, sterben." Neben dieser Erzählung würde nun dem Ort eine wichtige Bedeutung in der Vermittlungsarbeit zukommen. "Geschichte passiert nicht irgendwo, sondern auch hier ums Eck. Der Nationalsozialismus hat hier stattgefunden, auch an der eigenen Schule. Das kann ein Anknüpfungspunkt sein für historisches Lernen."

Schon heuter soll die Gedenklandschaft schon heuer umgesetzt werden, für Salzburg soll die Karte Ende 2024 hinzukommen, für Wien Anfang 2025, Ende 2025 dann in Niederösterreich.(Oona Kroisleitner, 8.5.2024)