Es gehört in der Uhrenindustrie zum guten Ton, auf eine lang zurückreichende Tradition und Firmengeschichte zu verweisen. Bei einigen wirkt das auf den zweiten Blick fadenscheinig. Bei anderen hält die Behauptung einer Überprüfung stand. Als Beispiel für Letzteres darf Longines gelten.

Daniel Hug
Leitet seit August 2019 das Archiv und das firmeneigene Museum: der Ex-Journalist Daniel Hug.
Longines

Seit 1832 ist man in St. Imier ansässig, seit 1867 dort, wo die Fabrik auch heute noch ihren Standort hat. Bekannt war dieser als Les Longines, zu Deutsch etwa "lange Wiesen", womit auch geklärt wäre, wo der Name der Uhrenmarke herrührt.

Fun-Fact: 1889 ließ der damalige Besitzer das Markenzeichen der Fabrik, den Schriftzug in Verbindung mit der geflügelten Sanduhr, registrieren. Es ist somit das älteste unveränderte und noch heute verwendete Markenzeichen der Welt.

Lindbergh, Einstein, Hepburn

Von 1867 bis 1983, also bis zu dem Zeitpunkt, als Longines Teil der Swatch Group wurde und seitdem ihre Werke von der Konzerntochter Eta bezieht, baute man hier im beschaulichen Berner Jura eigene Kaliber. Zunächst in Taschenuhren und dann in Armbanduhren.

Es sind demnach jede Menge alter Longines im Verkehr mit teilweise recht spannenden Uhrwerken und entsprechender Geschichte. So trug Charles Lindbergh eine Uhr aus Sankt Immer (deutsch für St. Imier), als er den Atlantik überflog. Auch Albert Einstein hatte eine, ebenso wie Audrey Hepburn.

Gebäude, Schweiz, St. Imier
Der Firmensitz von Longines in St. Imier im Berner Jura.
Longines

Herr über das Archiv und das firmeneigene Museum ist seit August 2019 der Ex-Journalist Daniel Hug. Seine Position als Head Brand Heritage wurde zwar für ihn nicht neu geschaffen, aber durch ihn unbestritten aufgewertet. Die Vermutung liegt nahe, dass dem Thema in jüngster Vergangenheit mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

STANDARD: Ist das so?

Hug: Brand Heritage hat an Bedeutung gewonnen, ohne Zweifel. Ich bin der Meinung, man muss die Geschichte leben und nicht nur erzählen. Das heißt, eine schöne Geschichte ohne die dazugehörigen Produkte ist ein bisschen wie L'art pour l'art.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Hug: Nehmen wir zum Beispiel das Thema Flyback: 1935 hat Longines das Patent für diesen Mechanismus eingereicht und 1936 bekommen. Aber schon davor haben wir Flyback-Chronografen gebaut. Dann haben wir 50 Jahre keinen mehr produziert. Was ist passiert? Die Konkurrenz springt in die Bresche und bringt welche auf den Markt. Das ist genau so geschehen. Da haben wir das Feld zu weit offen gelassen. Jetzt sind wir zurückgekommen, immerhin haben wir diese Komplikation erfunden. Das muss man auch so kommunizieren. Die schöne Geschichte alleine reicht eben nicht.

Armbanduhr, Chronograf
Longines Spirit Flyback: 1935 hat Longines das Patent für den Flyback-Mechanismus eingereicht.
Longines

Im Museum findet man auch den historischen Teil des Archivs: dicke in Leder gebundene Bände mit handschriftlichen Listen, die jedes Modell dokumentieren, das von 1867 bis Anfang der 1970er die Fabrik verließ. Danach wurde auf Mikrofilm und Kassetten zurückgegriffen. Heute ist das gesamte Archiv digitalisiert. Sammlern oder anderen Besitzern einer alten Longines kann die Marke einen besonderen Service anbieten: Man kann sich einen Archivauszug seiner Uhr ausheben und schicken lassen.

STANDARD: Wird ein solcher Auszug oft verlangt?

Hug: Letztes Jahr hatten wir 12.000 Anfragen. 12.000 Personen, die etwas zu ihrer Uhr wissen wollten. Man muss sich vorstellen, dass jede dieser Anfragen von uns persönlich beantwortet wird. Das braucht viel Manpower, das erledigt alles mein Team.

Bücher, Dokumente
Das Archiv der Uhrenmarke, das bis 1867 zurückreicht.
Longines

STANDARD: Inwiefern hat dieses große Interesse mit dem Boom am Secondhand-Markt zu tun?

Hug: Es gibt da eindeutig einen Zusammenhang. Das wurde manchmal auch missbraucht. Jemand erwirbt eine Uhr aus unklaren Quellen, die ist erst zwölf Monate alt, und weil er keine Papiere hat, kommt er dann zu uns und will sich die entsprechenden Papiere holen, um dem Zeitmesser eine Legitimation zu geben. Das ist mit ein Grund, warum wir jetzt eine Gebühr eingeführt haben, weil bislang war es so, dass wir das sogar gratis gemacht haben.

STANDARD: Wie viel verlangen Sie jetzt dafür?

Hug: 120 Franken für einen Auszug aus dem Archiv. Schließlich bedeutet das auch Arbeit für das Team.

Mit Schwarztee nachgeholfen

STANDARD: Waren auch Fälschungen darunter?

Hug: Immer wieder. Aber sobald wir merken, hier stimmt etwas nicht, stellen wir keinen Auszug aus. Wenn die Uhr ein schwarzes Ziffernblatt hat, aber laut Archiv mit einem silbernen verkauft wurde, gibt's keine Papiere für die Uhr. Prinzipiell: Wenn man ein Echtheitszertifikat haben möchte, muss man die Uhr einschicken. Dann wird sie von unserem Atelier Heritage geöffnet und begutachtet. Die haben so viel Erfahrung, die können schon aus der Distanz erkennen, ob beispielsweise ein Zifferblatt natürlich gealtert ist oder mit einem Schwarzteebeutel nachgeholfen hat.

STANDARD: So etwas passiert?

Hug: Ja, das gibt's. Ein Bad in schwarzem Tee macht das Zifferblatt ein bisschen gelblich, auch die Ziffern. Dann sieht die Uhr älter aus, als sie ist. Wir haben auch einen Geigerzähler.

STANDARD: Warum das?

Hug: Weil man damals in den 1930er-Jahren Radium als Leuchtmasse verwendet hat und das ist radioaktiv. Wenn der Geigerzähler anschlägt, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Uhr wirklich aus dieser Zeit stammt. Wenn er das nicht tut, obwohl die Uhr angeblich aus dieser Zeit stammt, dann stimmt etwas nicht.

STANDARD: Und das zu fälschen ist vermutlich schwer: Wo kriegt man das Zeug heute noch her?

Hug: Ich würde es auch nicht empfehlen, weil die Substanz giftig ist. Aber die Fälscher sind schon sehr einfallsreich.

STANDARD: Welche Modelle von Longines werden besonders oft gefälscht?

Hug: Das ist natürlich immer abhängig vom Wert. Aufpassen müssen wir vor allem bei den 13ZN-Chronografen, die sehr teuer sind und deshalb besonders oft gefälscht werden. Dieses Modell im Originalzustand zu finden, ist sehr schwierig. Das macht diese Uhr auch so teuer.

STANDARD: Wie ist der Stellenwert von Longines-Uhren auf dem Secondhand- bzw. Sammlermarkt?

Hug: Die Uhren von Longines sind keine Spekulationsobjekte – anders als manche Modelle von Rolex oder Patek: Die Leute nehmen die Uhr nicht einmal aus der Plastikverpackung heraus, sondern legen sie so wie sie sind in den Safe und warten darauf, dass sich ihr Wert auf wundersame Weise vermehrt. Nicht so bei Longines. Unsere Uhren sind Instrumente, Tool-Watches.

Armbanduhr, zweite Zeitzone
Longines Spirit Zulu Time: Ursprung und Name der 2022 aufgelegten Uhr gehen auf die erste Armbanduhr des Hauses mit zwei Zeitzonen aus dem Jahr 1925 zurück.
Longines

Und dennoch: Die Preise für Vintageuhren von Longines sind in letzter Zeit immer weiter gestiegen. Hug nennt ein Beispiel: "Die Conquest Power Reserve 1959 habe ich vor etwa drei Jahren für 2000 Dollar gekauft", schildert er. "Heute kostet die Uhr zwischen 4000 und 5000 Dollar." Longines mischt außerdem schon länger im Certified-Pre-Owned-Game mit: In der Genfer Boutique der Marke gibt es einen eigenen Collector's Corner, wo geprüfte und zertifizierte Vintageuhren der Marke verkauft werden. Die Nachfrage sei hoch, bekundet er.

Hug: Unter Kennern gelten manche Modelle als gesuchtes Sammlerobjekt. Vor allem schöne Chronografen gehen gut, die verkaufen wir problemlos. Richtig teuer sind die wasserdichten Chronografen mit pilzförmigen Drückern. Letztere hat sich Longines 1938 patentieren lassen. Solche Uhren kosten über 100.000 Euro im Originalzustand. Eine solche Uhr wurde auf einer Auktion in Genf auch schon für 180.000 Euro versteigert. Das heißt, es ist eine Wertsteigerung zu beobachten.

STANDARD: Warum wird das nicht an die große Glocke gehängt?

Hug: Nein das machen wir nicht. Dabei sind einige Modelle viel viel seltener als zum Beispiel eine Rolex Daytona. Von der Black Weems, 47 Millimeter mit Drehlünette, eine typische Pilotenuhr, hat Longines nur 27 Stück gefertigt. Die ist extrem rar. Ein solches Modell ist schon mal 100.000 Euro wert.

seltene Armbanduhr, Pilotenuhr
"Es handelt sich um eine rare Version der normalen Weems, die Sammler sprechen von der 'Black Weems',und ich konnte sie kürzlich für unser Museum akquirieren", erklärt Daniel Hug. Der 47,5 Millimeter große Zeitmesser wurde speziell für den Einsatz von Militärpiloten in der damaligen Tschechoslowakei angefertigt. Damit die Uhr exakt nach einem Zeitsignal gerichtet werden konnte, konnte der Pilot die weiße, drehbare Scheibe nach der Position des Sekundenzeigers ausrichten. Die arabischen Ziffern, Zeiger und der Indikator des Drehrings sind mit Radium beschichtet, damit der Pilot auch bei Nachtflügen die Zeit ablesen konnte. Zudem handelt es sich um eine der ersten Armbanduhren überhaupt, dessen Sekundenzeiger mit Radium beschichtet ist, damit seine Bewegung auch nachts abgelesen werden konnte. Die ersten Modelle der Black Weems entstanden 1934 in St. Imier.
Longines

STANDARD: Wird Longines allgemein unterschätzt?

Hug: Das kann ich nicht abstreiten. Dabei passt bei uns das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wenn man sich ansieht, wie sich die Preise verändert haben, ist das bei Longines eher moderat passiert. Und wenn wir teurer werden, dann können wir das argumentieren. Eine Preissteigerung geht mit einer besseren Qualität einher. Eine Uhr mit einer Saphir-Lünette, Siliziumspirale, etc. kann man nicht für unter 2000 Franken anbieten …

STANDARD: Zurück zum Archiv. Das ist auch deswegen ein unbezahlbarer Schatz, weil sich dort Vorlagen für Wiederauflagen finden lassen. Wie läuft das ab: Gehen Sie damit zu Ihrem Chef, Matthias Breschan, und sagen: Diese Uhr würde doch auch im Jahr 2024 funktionieren. Wollen wir das Modell wieder auflegen?

Hug: Das kann durchaus so gehen. Oft erwerbe ich das Modell und teste es an meinem Handgelenk. Ich schau mir seine Geschichte an und wenn ich das Gefühl habe, das Produkt hilft der Marke sich besser am Markt zu positionieren, mache ich einen entsprechenden Vorschlag.

STANDARD: Wie jüngst bei der Conquest Heritage Central Power Reserve?

Hug: Bei der Power Reserve mussten wir auch Geld in die Hand nehmen, weil so eine Gangreserveanzeige schüttelt auch Eta nicht einfach so aus dem Ärmel. Man musste in diesem Fall zunächst einen 3D-Scan des Originaluhrwerks anfertigen, weil noch niemand von den Ingenieuren dort eine solche Art von Gangreserve zuvor gesehen hatte.

Armbanduhr mit Gangreserveanzeige
Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Conquest-Kollektion präsentierte man die Conquest Heritage Central Power Reserve, die von einem Modell aus den späten 1950er-Jahren inspiriert ist. Speziell ist die Gangreserveanzeige: Sie wird von zwei sich drehenden Scheiben in der Mitte des Zifferblatts veranschaulicht.
Longines

STANDARD: Gab es keine Dokumente mehr?

Hug: Ein paar Aufzeichnungen gab es noch, aber die waren nicht ausreichend. Es hat sich jedenfalls ausgezahlt, denke ich. Da kam uns der Überraschungseffekt zugute. Denn die Uhrenwelt hatte darauf vergessen, dass wir das einmal gemacht haben: Eine Gangreserve-Anzeige mitten auf dem Zifferblatt in Form von drehbaren Scheiben, die deswegen auch ästhetisch sehr ansprechend ist. Normalerweise ist dieser Indikator ein retrograder Zeiger, der irgendwo auf dem Zifferblatt positioniert ist. Womit das Blatt seine Symmetrie verliert.

STANDARD: Sind Sie ein Fan der Ästhetik oder eher der Technik?

Hug: Es ist dann perfekt, wenn beides zusammenkommt. Im Automobilbau ist es das Gleiche, ich denke da an den Porsche 911. Auch dort verbinden sich Ästhetik und Technik zu etwas Einzigartigem. Deshalb ist dieses Auto auch ein zeitloser Klassiker. Ich persönlich fahre jedenfalls kein Auto, das nicht auch ästhetisch befriedigend ist. Eine Uhr wiederum kann noch so ein tolles Uhrwerk haben, aber wenn sie hässlich ist, will sie keiner haben. Eine Uhr ist zudem etwas höchst Persönliches, etwas, das man direkt auf der Haut trägt. Das sollte man auch nicht außer Acht lassen. (Markus Böhm, 22.5.2024)