Venissa Restaurant Venedig Reportage
Das Restaurant Venissa auf der Insel Mazzorbo besitzt sogar einen Weingarten.
Venissa

Etwas mehr als eine halbe Stunde braucht das Vaporetto von den Fondamente Nove in Venedig bis zur Insel Mazzorbo. Eine gute Gelegenheit, um sich noch einmal die Einzigartigkeit dieser Lagunenlandschaft zu vergegenwärtigen – ein Naturparadies mitten in Europa, in dem sich Land und Meer zu vereinen scheinen. Auf der verschlafenen Nachbarinsel vom stark besuchten Burano wartet mit dem Venissa eines der zurzeit wohl besten und mit Sicherheit spannendsten Restaurants Venedigs und ganz Norditaliens – noch dazu eingefasst in einen außergewöhnlichen, ja geradezu verwunschenen Rahmen.

Es ist ein regnerischer Tag, eine schwere Wolkendecke verdunkelt Himmel und Wasser der Lagune. Kalt ist es nicht, aber feucht. Der trocknende Fahrtwind am Vaporetto sorgt für eine willkommene Abwechslung. Nur zeitweise bricht die Sonne durch und bringt das Meer zum Glitzern. Ein Stück blauer Himmel zeigt sich und in Richtung Norden die angezuckerten Alpengipfel. Von der Anlegestelle Mazzorbo sind es nur wenige Schritte bis zum Restaurant Venissa. Touristen sind keine zu sehen, die Insel wirkt wie verlassen und von Möwen bewacht.

Im Schatten eines windschiefen Kirchturms aus dem 14. Jahrhundert liegt das im vorletzten Jahr umgestaltete und ansprechend designte "Venissa Wine Resort", zu dem neben dem Restaurant auch eine einfache Osteria, ein kleines Hotel und ein Weingarten gehören. Bekocht wird es seit 2017 von Chiara Pavan und ihrem Lebensgefährten Francesco Brutto. "Natürlich ist unser Arbeitsplatz ein wahr gewordener Traum", sagt die zierliche Pavan, während sie mit Kochjacke, Schürze und Gummistiefeln durch ihren Gemüsegarten führt, "selbst wenn man sich der Gefahren, die hier drohen, ständig gegenwärtig ist."

Tatsächlich ließen die Regenfälle und Unwetter der letzten Tage Schlimmes befürchten. Doch diesmal hat das heftig umstrittene und im Jahr 2021 in Betrieb genommene Schleusensystem "Mose" gehalten und Venedig, die Lagune und ihre Inseln vor Überschwemmungen bewahrt. 2019 war das noch anders. "Da stand das alles hier unter Wasser und wir mussten befürchten, die gesamten Rebstöcke zu verlieren", sagt Pavan und deutet auf den hauseigenen Weingarten.

Mit invasiven Arten kochen

Noch in den 1960er-Jahren wurde auf den allermeisten Inseln der Lagune Wein angebaut, bis ein epochales Hochwasser den Reben den Garaus machte. Nur einige wenige überlebten, darunter ein paar Exemplare hier, im ummauerten Garten unter dem Kirchturm. Im Jahr 2010 kaufte Gianluca Bisol, ein erfolgreicher Prosecco-Produzent aus dem nahen Treviso, das Anwesen und ließ den Weingarten mit der alten Sorte neuauspflanzen. "Die Rebsorte nennt sich Donota und genau genommen gibt es sie nur mehr hier", sagt Pavan. "Nach dem Hochwasser wussten wir nicht, wie sie mit dem Salz im Boden zurechtkommt, aber sie hat es überstanden."

Venissa Restaurant Venedig Reportage
Die invasive Blaukrabbe steht seit Jahren auf der Speisekarte des Lokals
Venissa

Hochwasser, Massentourismus und Umweltverschmutzung sind leider nicht die einzigen Plagen, die Venedig und seine Lagune bedrohen. Eine weitere sind invasive Spezies, also ursprünglich gebietsfremde beziehungsweise eingeschleppte Arten, die sich immer häufiger im Mittelmeer und in der Lagune finden. Und die das alteingesessene biologische Gleichgewicht des Gebietes bedrohen. Unter ihnen etwa der Blaubarsch oder die Rapana venosa, eine asiatische Meeresschneckenart, sowie gleich mehrere Arten von Quallen. Dann ist da noch die aus dem Westatlantik stammende Blaukrabbe, über die im vergangenen Sommer so viel berichtet wurde.

All das sind genau jene Arten, auf deren Verarbeitung sich die Küche des Venissa spezialisiert hat. "Die Krabbe ist extrem aggressiv, sie frisst Krustentiere, Miesmuscheln, Venusmuscheln und stellt eine regelrechte Gefahr für die Lagune dar, doch zum Glück schmeckt sie auch ganz wunderbar", sagt Pavan, während sie ein gekochtes Exemplar aufbricht. Tatsächlich enthält die Krabbe überraschend viel Fleisch, geschmacklich ist es etwas süßlicher als das der Seespinne, die eine traditionelle venezianische Delikatesse ist, in der Oberen Adria aber kaum mehr vorkommt und in der Regel aus Frankreich importiert wird. Was sie als Zutat fürs Venissa, wo man weder mit gefährdetem noch importiertem Meerestier arbeitet, jedenfalls ausschließt.

"Den intensivsten Geschmack haben die Krabben-Weibchen, und zwar am meisten, wenn sie Eier tragen", sagt Pavan, die, seit sie das Restaurant leitet, mit der Blaukrabbe arbeitet. Kein Wunder also, dass sich etliche Kollegen bei ihr meldeten, um zu fragen, wie man mit dem Krustentier denn nun am besten umgeht.

Venissa Restaurant Venedig Reportage
Die Köche Chiara Pavan und Francesco Brutto im Garten nahe Venedig
Venissa

Im Menü vom Venissa hat die eingewanderte Blaukrabbe schon seit Jahren sozusagen einen Stammplatz und wird auf alle möglichen Arten zubereitet. Wie etwa als Ravioli, die mit Krabbenfleisch gefüllt werden. Oder als Chawanmushi, eine Art japanischer Eierstich, den Pavan und Brutto mit Krabben-Brühe und -Flocken garnieren. Beeindruckend auch ein Gericht namens Canaletto, für das sie zu einer Art Bisque püriert und mit Miesmuscheln, Algen und Queller kombiniert wird. Ein dichtes, intensives und aromatisch wie konzeptuell aufgeladenes Gericht, das einem den Eindruck vermittelt, den Geschmack der Lagune in all seinen Facetten zu erleben.

Vergangenen Sommer, als der Alarm um den Eindringling am höchsten war, hat sogar Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihre Landsleute dazu aufgefordert, die Tiere zu verspeisen, und auf Instagram ein Foto von sich mit einem Teller voller Krabben gepostet. Hat das alles zu einer Verbesserung der Situation geführt? Pavan glaubt eher nicht. "Die Tiere vermehren sich weiter, weil sie hier so gut wie keine natürlichen Feinde vorfinden, was wiederum an der Überfischung liegt", sagt die Köchin. "Dass man sie nun vermehrt verkocht, ist freilich begrüßenswert. Doch um ihren Bestand zu reduzieren, wird das wohl nicht reichen." Dafür bräuchte es zumindest eine Art industrielle Verarbeitung des Fleisches der Tiere, um es ähnlich wie Thunfisch in Dosen und Gläser zu verpacken, und somit auch eigene Maschinen und eine eigene Logistik. Und das alles gibt es bislang noch nicht. (RONDO, Georges Desrues, 26.5.2024)