Eichelhäher
Ein Eichelhäher (Garrulus glandarius) mit Eichel im Schnabel. Bis zu 5000 solcher Nussfrüchte verstecken die Rabenvögel pro Saison. Das geht mit erstaunlichen Gedächtnisleistungen einher.
imago/BIA

Eichelhäher gehören zu den Rabenvögeln. Und das bedeutet, dass die sowohl optisch wie auch akustisch auffälligen Singvögel, die ihresgleichen und andere Tiere vor möglichen Feinden warnen, zu ziemlich außergewöhnlichen Intelligenzleistungen imstande sind. Einige der Eigenschaften dieser nicht gerade wohltönenden Alarmisten des Waldes ("screaming jay") waren der Forschung bereits bekannt. So sind die Männchen laut dem Rabenvogelfachmann Cord Riechelmann dazu in der Lage, die Futtervorlieben der Weibchen zu erkennen, ohne dass die Weibchen ihnen ihre Laune mitgeteilt hätten. Das können nicht alle männlichen Vertreter der Spezies Homo sapiens von sich behaupten.

Zu diesem erstaunlichen Vermögen, das darauf schließen lässt, dass die Männchen ihre Partnerinnen als Individuen mit eigenen Stimmungen und Innenleben wahrnehmen, kommt nun eine weitere kognitive Glanzleistung hinzu: Die gefiederten Schlaumeier können auf "mentale Zeitreise" gehen, wie der Psychologie-Dissertant James Davies (Universität Cambridge) argumentiert. Das bedeutet, dass die gefiederten Intelligenzbestien mental in die Vergangenheit zurückblicken und sich vergangene Ereignisse wieder ins Gedächtnis rufen können. Diese Fähigkeit gilt als Basis des episodischen Gedächtnisses und wurde Tieren lange abgesprochen. Das hat auch damit zu tun, dass diese Form der Rückerinnerung bislang eng an die Sprache geknüpft schien.

Meister des Merkens

Bleibt die Frage, wie die Forschenden um James Davies auf diese Eigenschaft der Eichelhäher stießen, deren Name davon herrührt, dass die Vögel pro Saison 3000 bis 5000 dieser Baumfrüchte pro Saison sammeln und verstecken. Dafür wieder müssen sich logischerweise so einiges merken. Und zufälliges Merken wiederum ist eben eine Voraussetzung der "mentalen Zeitreise" – also etwa, wenn wir uns bewusst an den letzten Supermarktbesuch zurückerinnern und uns dabei zufällig wieder einfällt, welche Farbe die Bluse der Frau an der Kasse hatte. Ende der zweckdienlichen Abschweifung und zurück zum eigentlichen Experiment.

Bei den Tests sahen die sieben teilnehmenden Eichelhäher (drei Weibchen, vier Männchen) zunächst, wie die Forschenden einen Mehlwurm unter einen Becher in einer Reihe von vier identischen Bechern legten. Im Anschluss erhielten sie dann für die richtige Identifizierung des Bechers mittels Ziehen an einem Fadens, der mit dem Bescher verbunden war, eine Belohnung. Die Eichelhäher wurden also darauf trainiert, sich den richtigen Becher zu merken.

Eichelhäher
Wo ist der Wurm? Einer der sieben Eichelhäher beim Gedächtnistest.
James Davies, Universität Cambridge

Beim eigentlichen Test änderte sich dann die Gedächtnisprüfung: Die Eichelhäher sahen zwar wieder, wie Futter unter einen der Becher gelegt wurde, die nun alle eindeutige visuelle Merkmale (verschiedene bunte geometrische Figuren) aufwiesen. Danach wurden die Vögel aber für zehn Minuten von den Bechern getrennt.

Episodischer Gedächtnisbeweis

In dieser Pause stellten die Forschenden die Becher um und ordneten sie neu an. Trotz der veränderten Position der Becher und der Zeitverzögerung identifizierten die Vögel den Becher mit dem Mehlwurm immer noch in 70 Prozent der Fälle korrekt anhand der visuellen Merkmale. Obwohl die visuellen Unterschiede zwischen den Bechern während des Trainings unwichtig waren, waren die klugen Vögel in der Lage, diese Unterschiede beim Test zu bemerken und sich später daran zu erinnern – ganz ähnlich wie das beim episodischen Gedächtnis des Menschen passiert.

Die Schlussfolgerung des Teams um James Davies im Fachblatt PLoS One: Da die Eichelhäher in der Lage waren, sich an Details zu erinnern, die zum Zeitpunkt der Erinnerung keinen besonderen Wert oder keine besondere Bedeutung hatten, ist davon auszugehen, dass sie zufällige Informationen innerhalb eines erinnerten Ereignisses aufzeichnen, abrufen und darauf zugreifen können. Diese Fähigkeit ist charakteristisch für jenen Modus des menschlichen Gedächtnisses, bei dem wir vergangene Ereignisse (oder Episoden) geistig "wiedererleben" – das sogenannte '"episodische Gedächtnis".

Für die Forschenden ist offensichtlich, dass die Eichelhäher diese fortgeschrittene Form der Erinnerung dank ihres ständigen Gedächtnistrainings in freier Natur erworben haben. Dabei erinnern sie sich nicht nur an die eigenen Eichelverstecke und das jeweilige Haltbarkeitsdatum der versteckten Früchte. Ihr Gedächtnis hilft den Intelligenzbestien natürlich auch dabei, die Futterverstecke ihrer Artgenossen zu plündern, die sie beim Verstecken beobachtet hatten. (tasch, 27.5.2024)