Die SPÖ hat gestern im Nationalrat einen Antrag auf Neuwahlen eingebracht. Oppositionelle Aktivitäten dieser Art sind die pointierteste Form von Regierungskritik und haben - insbesondere wenn die halbe Legislaturperiode um ist - gewöhnlich den Charakter einer sich aus der Logik der Dinge entwickelnden Pflichtübung: Irgendwann muss eine Opposition, will sie an sich erinnern, aus ihrer ständigen Kritik Konsequenzen ziehen, die über routinemäßige Nörgelei hinausgehen. Soll die Pflichtübung mit der Weihe eines Mindestmaßes an Glaubwürdigkeit versehen sein, muss sie drei Voraussetzungen erfüllen.

Der Neuwahlantrag muss sachlich wohl begründet sein; es sollte ihm ein Hauch von Realismus innewohnen, das heißt, die spezielle Situation, in der er eingebracht wird, darf die Hoffnung, er könnte angenommen werden, nicht gänzlich unplausibel erscheinen lassen; und die Opposition muss einleuchtend darstellen können, was an die Stelle der beseitigten Regierung und ihrer Politik treten soll, inhaltlich und formal. Was erfordert, dass sie nicht nur selber ein Alternativprogramm vorlegen kann, sondern sich auch einer Mehrheit dafür sicher weiß. Das Publikum will schließlich wissen, warum es sich bei vorzeitig vom Zaun gebrochenen Neuwahlen für eine andere Regierung entscheiden sollte.

Der Neuwahlantrag von Gusenbauer, Cap und Genossen erfüllte diese Voraussetzungen nur zum Teil. Zunächst: Er erscheint in der Sache wohl begründet, wenn auch im einzelnen die der Regierung vorgeworfene Handlungsunfähigkeit - das Hauptargument, auf das er sich stützt - gelegentlich mit der Unwilligkeit, so zu handeln, wie das die Antragsteller für richtig halten, verwechselt wird. En détail enthält der Antrag aber keinen Punkt, der nicht auch schon von dem einen oder anderen Kritiker aus den Reihen der Koalition beklagt worden wäre. Wenn sie etwa die Steuern und Abgaben in nie gekannte Dimensionen schraubt, ist die Regierung nicht handlungsunfähig, vielmehr im Unwillen, ihre Versprechungen einzuhalten, zu allem fähig.

Klare Handlungsunfähigkeit der Regierung wird offenbar bei Fragen wie Temelín und sichtbar bei Stotterbeschlüssen wie den, mit dem nun zwar die Chipkarte installiert, aber die damit verbundene Finanzierungslösung vertagt wurde. Dass diese Regierung in schwierigen Zeiten sowohl Einigkeit als auch Führung vermissen lässt, ist keine gehässige Einschätzung der Opposition, sondern heute in allen Zeitungen des Landes zu lesen, unterschiedlich höchstens in der Gewichtung.

Der Neuwahlantrag kann auch ein gewisses Maß innerer Plausibilität beanspruchen. Die traute Ausflugseinigkeit von einst ist Schwarzen und Blauen abhanden gekommen. Würde geheim abgestimmt, könnten die Klubobleute gerade garantieren, dass sie für nichts garantieren können. Vielen FPÖ-Abgeordneten liegt die Opposition ohnehin besser, und immer mehr ÖVP-Mandatare erkennen das Desaster, an dessen Anrichtung sie mitwirken müssen. Aber derzeit reicht das nicht, noch ist es den Einpeitschern dieser Koalition ein Leichtes, den Neuwahlantrag versickern zu lassen.

Den Gefallen, darüber groß im Plenum des Nationalrates zu debattieren, würden sie der Opposition nicht machen, das war von vornherein klar. Noch geben sie sich überzeugt, gewählt werde am letzten Sonntag im September 2003. Das sollte aber nicht weniger wundern, als sich Grünen-Chef Alexander Van der Bellen über den Neuwahlantrag der SPÖ gewundert hat. Der war vielleicht der erste Beweis einer rasanten Verjüngung der SPÖ. Aber noch kein Beweis einer programmatischen Alternative. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25.11.2001)