Militärische Kraftfahrzeuge mit Raketensystemen.
Das deutsche System Iris-T ist in der Favoritenrolle für die Mittelstrecken-Luftabwehr. Laut Ministerium seien aber auch noch andere Raketensysteme denkbar.
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Wien/Brüssel – Laut Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) sollen konkrete Schritte zur Beschaffung der europäischen Luftverteidigungsinitiative Sky Shield schon bald erfolgen. Beim kommenden EU-Verteidigungsministerrat Ende Mai in Brüssel soll eine Kooperationserklärung (Memorandum of Understanding, MoU) der beteiligten Staaten unterzeichnet werden, sagte Tanner bei einem Hintergrundgespräch in Wien.

Danach könnte die Beschaffung für Abwehrsysteme mittlerer und kurzer Reichweiten für Österreich "sehr rasch" beginnen, zunächst mit Vertragsverhandlungen mit den Herstellern. Tanner nannte in diesem Zusammenhang das deutsche Mittelstrecken-Luftabwehrsystem Iris-T, es gebe aber auch andere infrage kommende Systeme sagte sie. Die Luftwaffenchefs der einzelnen Sky-Shield-Staaten stünden in laufendem Austausch.

Erste Unterschrift vergangenen Sommer

Bereits vergangenen Sommer hatte Tanner in Bern eine Absichtserklärung (Letter of Intent) zu Österreichs Teilnahme an einer gemeinsamen Beschaffung von Raketen für das von Deutschland initiierte gemeinsame europäische Luftabwehrsystem unterschrieben – damals gemeinsam mit ihrem deutschen Amtskollegen Boris Pistorius und ihrer Schweizer Kollegin Viola Amherd.

Das nun auf EU-Ebene geplante Memorandum of Understanding ist etwas konkreter als der Letter of Intent von vergangenem Juli, aber noch nicht rechtlich bindend. Bei der geplanten Unterzeichnung durch die Verteidigungsministerinnen und -minister der teilnehmenden Staaten geht es vor allem um das Bekenntnis, eine gemeinsame Beschaffung der Abwehrsysteme durchführen zu können – was günstiger kommen soll als Anschaffungen auf Eigeninitiative der einzelnen Länder.

"Mit dieser Kooperationsvereinbarung ist auch ein Austausch der Unterlagen zwischen den einzelnen Teilnehmerländern möglich", heißt es aus dem Büro Tanner dem STANDARD gegenüber. Der nächste Schritt auf dem Weg zu Sky Shield wäre eine Entscheidung für das System eines bestimmten Herstellers – und danach die konkreten Vertragsverhandlungen.

Verfügbarkeit nicht vor 2027

Der Chefplaner des österreichischen Bundesheeres und stellvertretende Generalstabschef, Generalleutnant Bruno Hofbauer, sagte, derzeit würden Rückmeldungen aus anderen EU-Staaten und aus den USA analysiert. "Mit Jahresmitte müssten wir so weit sein, dass wir sagen können, in diese Richtung gehen wir weiter." Eine Verfügbarkeit der Systeme mittlerer Reichweite erwartet Hofbauer nicht vor 2027/28, da nach einer Beschaffungsentscheidung noch ein umfangreiches Vertragswerk aufgesetzt werden müsse. Diese Luftabwehrsysteme mittlerer Reichweite seien im Aufbauplan des Bundesheeres mit zwei Milliarden Euro veranschlagt.

Für Systeme längerer Reichweiten rechnet Tanner mit weiteren bis zu vier Milliarden Euro, die bisher nicht im Budget enthalten sind. Eine Entscheidung für ein System oder einen konkreten Beschaffungszeitraum gibt es noch nicht. Dazu gebe es laut Tanner bisher einen Ministerratsvortrag und mehr als ein politisches Commitment. "Ich bin sicher, dass es keine politische Partei gibt, die einen Funken an Verantwortung hat, die nicht jetzt erkannt hat, dass wir auch für diese Reichweiten das Unabdingbare machen müssen." Tanner sprach zudem von 36 Systemen, die bereits unterschriftsreif seien, wie etwa die mobile Flugabwehr Skyranger, die auf Pandur-Panzer montiert werden.

"Neutralität allein beschützt uns nicht"

Durch die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten und in der Ukraine sei klar geworden, "dass wir im Bereich der Luftverteidigung Schritte rasch umsetzen müssen", betonte Tanner. Israel habe 99 Prozent der Drohnen und Raketen aus dem Iran abgewehrt, "da haben wir sehr viel Aufholbedarf", dies gelte aber nicht nur für Österreich, sondern auch für andere Armeen.

Gerade für einen neutralen Staat wie Österreich sei es notwendig, seinen Luftraum verteidigen zu können, sagte die Verteidigungsministerin. Österreich werde diesbezüglich im Gleichschritt mit der neutralen Schweiz vorgehen, die ebenfalls bei Sky Shield mit dabei ist. "Die Neutralität allein beschützt uns nicht", so Tanner, die Welt sei "aus den Fugen", es brauche auch ein gut ausgestattetes Bundesheer. Anders als Österreich hat sich die Schweiz bereits für den Ankauf des US-amerikanischen Patriot-Systems für die längeren Reichweiten entschieden. Kürzere Reichweiten-Systeme will die Schweiz erst nach 2030 einsatzbereit haben.

Sky Shield sei "unglaublich wichtig" und die "Speerspitze für den Schutz unseres neutralen, wunderschönen Landes", so Tanner. In Hinblick auf die FPÖ, die Sky Shield als nicht mit der Neutralität vereinbar gesehen hatte, sagte sie, die Stimmen, die dies gemeint hätten, seien mittlerweile verstummt. Gerade als neutraler Staat sei es notwendig, diesen Schutzschirm über Österreich zu bauen.

Höhere Preise durch Irans Angriff auf Israel?

Das MoU, das Ende Mai unterzeichnet werden soll – die belgische Ratspräsidentschaft hat das Treffen der EU-Verteidigungsminister für den 28. Mai angesetzt – sei noch keine Kaufentscheidung, sondern der letzte Schritt einer rechtlich unverbindlichen Erklärung, sagte Hofbauer. "Es öffnet die letzten Türen, damit die Industrie mit uns über alles sprechen kann, was wir wissen wollen. Erst danach können wir eine qualifizierte Beurteilung und eine Entscheidung durchführen."

Auf die Frage, ob der direkte Angriff des Iran auf Israel die Nachfrage und somit auch die Kosten für Luftverteidigungssysteme in die Höhe treibe, sagte der Chefplaner des Bundesheeres: "Erstens gibt es eine erhöhte Nachfrage, das ist richtig. Es steigern sich aber auch gerade enorm die Industriekapazitäten. Wir gehen davon aus, dass sich die Preise 2027 bis 2029 einigermaßen stabilisiert haben werden. Derzeit haben wir schon ein All-Time-High, was die Rüstungsindustrie verlangen kann."

Nicht nur auf Ukraine ausrichten

Österreich könne die Stabilisierungsmaßnahmen in der Nahost-Region verstärken, etwa durch Teilnahme an internationalen Missionen, sagte der Generalsekretär und Generaldirektor der Verteidigungspolitik im Verteidigungsministerium, Arnold Kammel. Zweitens sieht er die Notwendigkeit, die Europäische Friedensfazilität – ein EU-Finanzierungsinstrument – nicht nur auf die Ukraine auszurichten. Der Nahe und Mittlere Osten gewinne an Bedeutung. Ein Hauptaugenmerk solle auf dem Libanon liegen, um zu verhindern, dass dort die Lage eskaliere. Die Reichweite iranischer Lenkwaffen betreffe mittlerweile auch Österreich. Dies unterstreiche die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Abwehr, die nur im europäischen Verbund gemeinsam gelingen könne.

Österreich habe im Libanon sein drittgrößtes Auslandskontinent des Bundesheeres nach Bosnien und dem Kosovo, sagte Tanner. Dies zeige, dass Österreich ein sehr glaubwürdiger Partner bei der europäischen Verteidigungsarchitektur sei. Es sei daher nicht fair, von Österreich als Trittbrettfahrer zu sprechen, so die Ministerin. Derzeit habe Österreich mehr Auslandssoldaten im Einsatz als etwa Deutschland.

Zahlreiche EU-Länder an Bord

Die European Sky Shield Initiative (ESSI) wurde von Deutschland initiiert, Ziel ist die Stärkung der Luftraumabwehr vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit ESSI soll ein Schutzschirm über die teilnehmenden Länder gespannt werden, der Drohnen und Raketen frühzeitig erkennen und abwehren kann.

Die Initiative wurde am 13. Oktober 2022 von 13 EU-Staaten sowie Großbritannien und Norwegen gegründet. Dabei sind die Nato-Staaten Slowakei, Lettland, Ungarn, Bulgarien, Belgien, Tschechien, Finnland, Litauen, Niederlande, Rumänien, Slowenien, Estland sowie Dänemark und Schweden. Die jüngsten Mitglieder sind Griechenland und die Türkei. Als einzige neutrale Länder unterzeichneten Österreich und die Schweiz am 7. Juli 2023 eine Absichtserklärung zur Teilnahme. Die Schweizer Regierung genehmigte unlängst ein entsprechendes Memorandum of Understanding. (APA, tschi, 23.4.2024)