Die Soziologen Max Haller und Franz Höllinger halten in ihrem Gastbeitrag die neue Regelung des Ethikunterrichts für zu wenig weitreichend. Sie plädieren zumindest für eine Kombination mit Religion – und zwar für alle.

Der Nationalrat hat im November die Einführung eines verpflichtenden Ethikunterrichts für jene Schülerinnen und Schüler ab der neunten Schulstufe beschlossen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Für Österreich war dies ein wichtiger Schritt, stellt es doch in religiöser Hinsicht eine pluralistische Gesellschaft dar. 2019 waren etwa nur noch 58 Prozent der Bevölkerung katholisch; drei Prozent waren protestantisch, acht orthodox, acht muslimisch und etwas mehr als 20 Prozent ohne Konfession.

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Seit Jahr und Tag wird über die Einführung eines Pflichtfachs für Ethik debattiert. Jetzt gibt es dieses zwar, aber nur für jene Schülerinnen und Schüler ab der neunten Schulstufe, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen.
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Mit dem verabschiedeten Gesetz wurden allerdings die Möglichkeiten eines verpflichtenden Ethikunterrichts für alle bei weitem nicht ausgeschöpft. Ein erster Mangel besteht darin, dass er nur für jene gelten soll, die keinen Religionsunterricht besuchen. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen gibt es eine fortschreitende Veränderung der konfessionellen Struktur in Österreich. Von allen neugeborenen Kindern hatten 1970 noch gut 80 Prozent eine katholische Mutter, 2015 waren dies nur noch knapp 55. Dafür stieg der Anteil der konfessionslosen Mütter auf 31 Prozent, jener der muslimischen Mütter betrug 14 Prozent. In großstädtischen Ballungsräumen mit einem hohen Anteil an Zuwanderern ist der Anteil der Kinder ohne christlichen Hintergrund noch viel höher.

Angesichts der geringen kirchlichen Beteiligung in der jüngeren Generation ist zu erwarten, dass die Nachfrage nach einem konfessionellen Religionsunterricht in Zukunft weiter abnehmen wird. Ein konfessionsunabhängiger verpflichtender Ethikunterricht würde die Möglichkeit bieten, allen Kindern und Jugendlichen ethische Grundwerte und ein Basiswissen über die großen Religionen zu vermitteln.

Als wenig relevant eingestuft

Ein zweites Problem liegt darin, dass der Religionsunterricht in der derzeitigen Schulpraxis sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Oft wird er überhaupt nicht (mehr) angeboten oder besucht. Da das Fach Religion von vielen Schülern, Schülerinnen und Eltern im Vergleich zu den "Lernfächern" als wenig relevant eingestuft wird, werden viele abgemeldet. Aufgrund zu geringer Teilnehmerzahlen kann oft nur eine Stunde Religion pro Woche angeboten werden, zum Teil kommt der Unterricht überhaupt nicht zustande. Zudem wird Religion von manchen Schulleitungen als "Freifach" betrachtet und so spät am Nachmittag angeboten, dass viele Schüler und Schülerinnen nicht teilnehmen. Aus all diesen Gründen haben nicht nur Angehörige kleinerer Religionsgemeinschaften, sondern auch viele katholische Schüler und Schülerinnen de facto keinen Religionsunterricht.

Drittens erfüllt das verabschiedete Gesetz nicht die Bedingung, dass alle Kinder und Jugendlichen einen Ethikunterricht erhalten sollten. Berufsschulen und polytechnische Lehrgänge sind explizit ausgeschlossen. Gerade in diesen werden aber viele Kinder von nichtchristlichen Zuwanderern zu finden sein.

Ab der Volksschule

Ein Ethikunterricht müsste außerdem schon in den Volksschulen beginnen. Kinder aller Konfessionen, aber auch Kinder aus nichtreligiösen Familien würden dadurch schon von frühem Alter an erfahren, dass alle Religionen positive Werte propagieren und für ein friedliches Zusammenleben bei wechselseitiger Toleranz plädieren. Dieser Aspekt ist insbesondere für jene Kinder und Jugendlichen von Bedeutung, die gefährdet sind, in den politisch-islamischen Fundamentalismus abzudriften und im Extremfall sogar wahllos Menschen zu töten, wie die terroristischen Attentate in Europa und zuletzt auch in Wien zeigten. Ein verpflichtender Ethikunterricht würde ermöglichen, Konfliktthemen zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen im Dialog mit Schülern und Schülerinnen aller Konfessionen zu bearbeiten.

Ein letztes Argument für einen allgemeinen Ethikunterricht ist die Tatsache, dass auch die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung klar dafür ist. Nach einer repräsentativen Gallup-Umfrage unter 1000 Personen befürworten 70 Prozent ein Pflichtfach Ethik für alle. Dieses Faktum ist wichtig, auch wenn die Ergebnisse von Umfragen keinesfalls als alleinige Richtschnur für die Politik angesehen werden dürfen.

Wie könnte ein zukunftsweisendes Gesetz für einen allgemeinen Ethikunterricht aussehen? Ethik müsste in allen Schultypen des primären und sekundären Bildungssystems in Österreich (einschließlich der Berufsschulen) als Pflichtfach eingeführt werden. Am besten wäre sicherlich ein eigenes Fach Ethik. Da dies aber gesetzlich momentan nicht ohne weiteres möglich ist und auch um die Einstellung doch vieler Bürgerinnen und Bürger zu respektieren, schlagen wir vor, den Ethikunterricht mit dem Religionsunterricht zu kombinieren. Religion könnte also weiter einen wichtigen Stellenwert einnehmen.

Realitätsnahe gestalten

De facto steht ja bereits im derzeitigen Religionsunterricht oftmals die Auseinandersetzung mit wichtigen gesellschaftlichen Problemen und Fragen eines humanen zwischenmenschlichen Umgangs im Mittelpunkt. Das Fach sollte – analog zum Fach "Geschichte, Sozialkunde und politische Bildung" – die Doppelbezeichnung "Ethik und Religion" erhalten. In einer Übergangsphase könnte es mit entsprechender Fortbildung auch von den heutigen Religionslehrern und -lehrerinnen und von Lehrkräften anderer sozial- und humanwissenschaftlicher Fächer unterrichtet werden. An der Gestaltung der universitären Lehrerausbildung und der schulischen Lehrpläne für das Fach "Ethik und Religion" sollten Vertreter aller anerkannten Religionsgemeinschaften beteiligt sein.

Um den Ethikunterricht möglichst lebendig und realitätsnahe zu gestalten, könnten auch Vertreter anderer Religionen, von ethnischen Minderheiten und von wichtigen NGOs wie etwa Umweltorganisationen in den Unterricht eingebunden werden. In der Steiermark werden derartige innovative Unterrichtsmodelle im Rahmen des interkulturellen Bildungsprojekts IKU bereits seit 20 Jahren erfolgreich eingesetzt. (Max Haller, Franz Höllinger, 20.1.2021)