Kann man nach einem Vierteljahrhundert autoritärer Machtausübung glaubhaft um die Gunst liberaler Demokratien buhlen? 2019 sah es so aus, als würde Alexander Lukaschenko es zumindest versuchen. Der Langzeitmachthaber von Belarus (Weißrussland) empfing den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz damals in der Hauptstadt Minsk, noch im selben Jahr gab es den Gegenbesuch in Wien.

Der Langzeitmachthaber von Belarus, Alexander Lukaschenko.
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Die politische Begleitmusik der bilateralen Reisediplomatie war deutlich zu hören: Belarus, das wirtschaftlich am Tropf des großen Nachbarn Russland hängt, sah sich immer größerem Druck aus Moskau ausgesetzt. Dass Lukaschenko sich aus der Umklammerung des russischen Präsidenten Wladimir Putin lösen wollte, galt als offenes Geheimnis. Auch er selbst ließ daran kaum einen Zweifel. Immerhin dankte er Kurz für die Bemühungen Österreichs, die Annäherung seines Landes an die EU zu unterstützen, und bezeichnete Letztere gar als "eine der Stützen der globalen Sicherheit".

Heute, nur zwei Jahre später, wären derlei Töne aus Minsk geradezu undenkbar. Dem österreichischen Kanzler vorzuwerfen, er habe damals dem letzten Diktator Europas eine Bühne geboten, damit dieser sich als respektabler Staatsmann und verlässlicher Partner für westliche Investoren präsentieren konnte, wäre dennoch unfair. Das Prinzip Wandel durch Annäherung ist in der Diplomatie nicht neu – und hätte auch hier Fortschritte bringen können.

Spielregeln der Demokratie

Am Ende aber war es Lukaschenko selbst, der sich wieder in die Arme Putins geworfen hat. Ausschlaggebend dafür war, dass er – wie alle Autokraten – die erste und einfachste Spielregel der Demokratie nicht verstanden hat: Politiker sind nur für eine bestimmte Zeit gewählt. Das Volk muss die Freiheit haben, sie wieder abzuwählen. Und auch sie selbst sollten sich die Freiheit gönnen, an ihr Leben danach zu denken, anstatt zu Geiseln ihrer eigenen Macht zu werden. Lukaschenko war und ist dazu nicht in der Lage.

Als er bei der Präsidentschaftswahl im August vergangenen Jahres mehr als 80 Prozent der Stimmen für sich reklamierte, war das eine Zäsur für sein Land und dessen Außenbeziehungen. Erst recht, nachdem er die Protestkundgebungen in Belarus gewaltsam niederschlagen ließ. Die erzwungene Landung eines Passagierflugzeugs und die anschließende Verhaftung eines oppositionellen Journalisten, der an Bord war, ist nur der jüngste Höhepunkt einer brutalen Repressionswelle im Land.

Wer so vorgeht, braucht gar nicht erst zu versuchen, liberale Demokratien als Partner zu gewinnen. Die jahrelange Schaukelpolitik, mit der Lukaschenko geschickt zwischen Russland und dem Westen laviert hatte, ist in die Sackgasse geraten. An deren Ende wartet mit weit geöffneten Armen Wladimir Putin.

Dass die Umarmung Lukaschenko gefallen wird, darf bezweifelt werden. Putin sieht Belarus als russisches Einflussgebiet und als Pufferzone zu EU und Nato. Lukaschenko ist dort nur so souverän, wie Putin es ihn sein lässt – das gilt ab jetzt mehr denn je. Aus seiner Sicht mag es traurige Ironie sein, dass er sich so sehr an die Macht geklammert hat und sie genau deshalb an Moskau verliert.

Für die Gegnerinnen und Gegner seines Regimes ist all das aber noch viel trauriger. Die meisten von ihnen nämlich wollten überhaupt kein Ost-West-Gezerre, sondern einfach nur Demokratie. (Gerald Schubert, 28.5.2021)