Die "Querdenker"-Bewegung nutzt Telegram zur Vernetzung.

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Seit Monaten strömen Impfgegner, Corona-Leugner und Verschwörungsgläubige auf die Straßen österreichischer und deutscher Städte. Sie demonstrieren gegen die Regierungsmaßnahmen, in denen sie eine Einschränkung ihrer Freiheit, ja sogar eine Diktatur erkennen wollen. In Wien waren es Mitte Dezember mehr als 40.000 Menschen, darunter zunehmend gewaltbereite Rechtsextremisten. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und Angriffen auf Medienvertreter, berichtete der STANDARD.

Wie sehr sich die Lage verschärft hat, zeigt ein Blick nach Deutschland: Anhänger der dortigen "Querdenker"-Bewegung äußerten Mordpläne gegen Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Kurz darauf versuchten Impfgegner mit Fackeln zum Haus der Mecklenburg-Vorpommer’schen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) vorzudringen. Die Polizei musste sie aufhalten.

Keine Moderation

An der Radikalisierung dieser Menschen ist maßgeblich Telegram beteiligt. Nach Ausbruch der Pandemie zogen sich Corona-Leugner und Maßnahmengegner rasch auf den Messenger zurück. Denn: Trotz zunehmend radikalerer Inhalte können sie sich dort ungestört vernetzen und austauschen. Inhaltsmoderation sucht man hier vergeblich.

Neu ist diese Erkenntnis nicht. Expertinnen und Experten warnen schon länger vor den Gefahren des Messengerdiensts. Alleine "Querdenken 711", die wahrscheinlich wichtigste Splittergruppe der Bewegung, erreicht dort mit einem öffentlich einsehbaren Kanal fast 60.000 Personen. Ein Ableger aus Dresden mehr als 4.000.

Besonders gefährlich ist Telegram aber wegen seines Aufbaus. Die Kommunikation ist direkter, fesselnder und emotionaler als bei Facebook und Konsorten. In der Regel können alle Mitglieder einer Gruppe ungefiltert ihre Meinung posten. Anschließend erhält man für jede Antwort eine Push-Benachrichtigung auf das Handy. Das vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und hält auf Trab.

Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei all diesen Kanälen und Gruppen nicht um geschlossene Ökosysteme handelt. Beiträge können per Knopfdruck geteilt werden. Schnell vermischen sich so rechtsextremistische Inhalte mit vergleichsweise harmloser Maßnahmenkritik, wie der STANDARD berichtete.

Vorstoß in Deutschland

Die zunehmende Gewaltbereitschaft von Impfgegnern und Corona-Leugnern hat inzwischen auch die deutsche Regierung auf den Plan gerufen: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte ein härteres Vorgehen gegen Gewalt und Hetze auf der Plattform an. Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) fordert ähnliches: "Bei Telegram muss der Staat schnell reagieren", sagte er gegenüber der "Süddeutschen Zeitung". Würden entsprechende Inhalte nicht gelöscht, müssten laut ihm Sanktionen wie Bußgelder – und möglicherweise auch ein Geoblocking des Diensts folgen.

Entsprechende Maßnahmen tatsächlich durchzusetzen scheint allerdings sehr schwierig zu sein. Zwei Bußgeldverfahren laufen bereits, weil Telegram keinen klaren Meldeweg und keinen Verantwortlichen in Deutschland nenne. Das Problem ist jedoch, dass der russische Messenger seinen Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) hat – und auf Verfahrensschreiben bisher nicht antwortete.

Messenger, nicht Plattform

Hinzu kommt die recht schwammige Rechtslage. Telegram fällt derzeit nicht klar unter das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Netz DG), das Plattformbetreiber zur Löschung relevanter Inhalte verpflichtet. Ab dem 1. Februar 2022 sollen Betreiber laut diesem rechtswidrige Inhalte aus dem Bereich der Hasskriminalität sogar an das Bundeskriminalamt melden.

Telegram gilt derzeit allerdings – ähnlich wie Whatsapp – als Messengerdienst, der für Individualkommunikation bestimmt ist. Die Maßnahmen des Netz DG beschränken sich hingegen auf Plattformen zur öffentlichen Kommunikation, wie zum Beispiel Facebook und Instagram. In Wirklichkeit handelt es sich bei Telegram aber um einen Hybrid. Immerhin kann man öffentliche Gruppen mit teils hunderttausenden Mitgliedern eröffnen.

Die österreichische Gesetzeslage sieht ähnlich aus, wie Thomas Lohninger von der Grundrechtsorganisation Epicenter Works dem STANDARD erklärt. Laut dem hiesigen Kommunikationsplattformen-Gesetz (KoPl-G) gelte Telegram als Messenger. Die Komm Austria, also die österreichischen Regulierungsbehörde für Rundfunk und audiovisuelle Medien, teilte hingegen mit, dass sie Telegram bereits als dem KoPl-G unterworfen einstuft. Das Problem sei jedoch auch hierzulande die Erreichbarkeit der Verantwortlichen.

Mögliche Einschränkungen

Zumindest in Deutschland könnte sich das nun ändern: "In den aktuellen Verfahren ordnet die Regierung Telegram bereits als soziales Netzwerk ein: zu Recht. Die Möglichkeit des Abonnements von Kanälen, das Teilen von Beiträgen, Funktionen wie Umfragemöglichkeiten und Gruppenvideocalls gehen weit über einen Messengerdienst hinaus", sagt Josef Holnburger, Experte für Verschwörungsmythen bei der Denkfabrik Cemas.

"Dennoch entzieht sich Telegram mit Sitz in Dubai weiterhin dem Netz-DG-Anwendungsbereich", ergänzt Helena Schwertheim vom Institute for Strategic Dialogue (ISD). Sinnvoll sei deshalb eine Anpassung des Vollstreckungsrechts, um Dritte als Vollstreckungshelfer einbinden zu können. Es sei jedenfalls naheliegend, dass das Unternehmen nur unter erheblichem Druck einlenken werde: "Dieser könnte zum Beispiel durch eine Einschränkung des App-Betriebs in einem oder mehreren Ländern entstehen."

Kein Fall für nationale Lösungen?

Eine generelle Sperre Telegrams, wie sie auch Thüringens Innenminister in den Raum gestellt hat, sei allerdings völlig inakzeptabel, sagt Julia Reda von der Grundrechtsorganisation "Gesellschaft für Freiheitsrechte" gegenüber dem STANDARD. Denn: Trotz der Probleme mit rechtsradikaler Hetze sei der Großteil an Kommunikation legal – und eine Sperre ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit.

Den jüngsten Vorstoß der deutschen Bundesregierung, das Netz DG ausweiten zu wollen, hält Reda deshalb für falsch. Die Regulierung internationaler Unternehmen müsse stattdessen auf europäischer Ebene ablaufen – wo bereits intensiv über den Digital Services Act (DSA) diskutiert wird, der unter anderem eine Sorgfaltspflicht für große Internetplattformen vorsieht. Laut Reda könnten die Verhandlungen bereits Mitte kommenden Jahres erfolgreich abgeschlossen werden.

Corona-Leugner als Gefahr

Egal, ob sie nun auf nationaler oder EU-Ebene etabliert werden: Dass Telegram neue Spielregeln braucht, scheint inzwischen klar zu sein. Dank der wachsenden Aufmerksamkeit politischer Entscheidungsträger dürfte auch der Druck auf die Betreiber steigen. Hinzu kommt laut Holnburger, dass der Messenger dieses Jahr erstmals eine Monetarisierung anstrebt. Für eine erfolgreiche Umsetzung dieses Vorhabens ist das Unternehmen abhängig von Werbetreibenden – die wiederum dessen Haltung gegenüber der Moderation beeinflussen könnten.

In der Zwischenzeit dürfe man nicht vergessen, dass Ermittlungen in konkreten Fällen auch ohne Hilfe des Messengers möglich sind. Verdächtige Personen tauschen sich meist in öffentlichen Gruppen aus, um sich dann offline zu verabreden.

Das scheinen auch die deutschen Behörden so zu sehen. Wegen der Morddrohungen gegen Kretschmer gab es letzte Woche mehrere Hausdurchsuchungen in Dresden. Ein wichtiger Schritt, um die Konsequenzen für vergleichbare Taten aufzuzeigen. Denn: Wann eine striktere Regulierung Telegrams Realität wird, ist weiterhin unklar. (Mickey Manakas, 21.12.2021)


Hinweis 23.12.21: Der Artikel wurde um einer Richtigstellung der Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria) ergänzt.