Die in Europa und Nordasien lebende Zwergspitzmaus (Sorex minutus) zählt zur Gattung der Rotzahnspitzmäuse (Sorex). Am europäischen Kontinent gehört sie zu den kleinsten an Land lebenden Säugetieren.

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Die Entdeckung neuer Arten ist an sich nicht so ungewöhnlich. Rund um den Globus stoßen Forschende regelmäßig vor allem auf unbeschriebene Insekten, Spinnentiere und Samenpflanzen. Neue Säugetiere zu beschreiben gleicht hingegen einer kleinen Sensation. Durch die intensive Arbeit eines international besetzten Forschungsteams halten nun gar 14 neue Spitzmäuse auf der Artenliste Einzug. Dies ist die größte Anzahl neuer Säuger, die seit 1931 beschrieben wurde.

"Es ist eine aufregende Entdeckung, aber manchmal war es frustrierend", sagt Jake Esselstyn von der Louisiana State University, Leiter der Forschungsgruppe. Denn dem besonderen Erfolg ging eine jahrelange Bestandsaufnahme auf der indonesischen Insel Sulawesi voraus. Von 2010 bis 2018 sammelte das indonesisch-australisch-amerikanische Team Spitzmaus-Exemplare auf dem größtenteils dicht bewaldeten Eiland. Mit diesem Schatz kehrten die Wissenschafter zurück ins Labor, um Genetik und Morphologie der Tiere zu untersuchen. Rund 1.400 Individuen nahmen sie dabei unter die Lupe.

"Normalerweise wird eine neue Art nach der anderen entdeckt, was an sich schon für Nervenkitzel sorgt", sagt Esselstyn, Experte für Säugetiersystematik. Im aktuellen Fall sei die Vielzahl der aufgelesenen und zu untersuchenden Tiere jedoch schier überwältigend gewesen. Letzten Endes beschrieb das Wissenschaftsteam 21 auf Sulawesi lebende Spitzmausarten, von denen es 14 als neue, endemische Arten identifizierte. Die Arbeit erschien im Fachblatt "Bulletin of the American Museum of Natural History".

Minimale Unterschiede im Knochenbau und DNA-Sequenzen halfen Forschenden, die Artgrenzen der auf Sulawesi lebenden Spitzmäuse (Gattung: Crocidura) zu ziehen. Dabei beschrieben sie 14 endemische Arten neu und schärften bei der Beschreibung der bekannten Arten nach.
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Umfassendes Familienalbum

Diese Entdeckung lässt einerseits die Zahl der bekannten Spitzmausarten auf 461 anwachsen – womit die possierlichen Insektenfresser zu einer der artenreichsten Familien weltweit avancieren. Andererseits macht der Sensationsfund Indonesien zum Hotspot der Diversität: Sulawesi beheimatet dreimal so viele Spitzmausarten wie jede andere Insel, was neue Forschungsfragen aufwirft. Künftig will Esselstyn die biologischen, geologischen und geografischen Faktoren ergründen, die zu Sulawesis außergewöhnlicher Artenvielfalt führen.

In Europa fühlt sie sich ebenso heimisch wie in Nordafrika: Die Hausspitzmaus (Crocidura russula) ist eine Vertreterin der artenreichen Unterfamilie der Weißzahn- oder auch Wimperspitzmäuse (Crocidurinae).
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In puncto Vielfalt suchen Spitzmäuse wahrlich ihresgleichen: Mit drei Unterfamilien und rund 26 Gattungen bilden die Spitzmäuse (Soricidae) eine der artenreichsten Säugetierfamilien. Sie bevölkern nahezu alle Erdteile, lediglich in Australien, Südamerika (mit Ausnahme des äußersten Nordens) und den Polarregionen fehlen sie im Inventar. In fast jedem Lebensraum haben sich eigene Arten und Unterarten entwickelt und sich perfekt an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Als Rekordhalter in der Fauna hat sich die Gattung der Weißzahnspitzmäuse hervorgetan, die mit knapp 200 Arten als artenreichste Säugetiergattung der Welt gehandelt wird.

Geschützt durch Wissen und Gift

Dass nun Klarheit um die Taxonomie der indonesischen Spitzmäuse herrscht, leistet dem Artenschutz Vorschub. "Wenn wir nicht wissen, wie viele Arten es gibt oder wo sie leben, schränkt das unsere Fähigkeit, Leben zu verstehen und zu bewahren, stark ein", sagt Esselstyn. Die größte Gefahr geht von der Zerstörung ihrer Lebensräume und von eingeschleppten Neozoen aus.

Besonders bedroht sind auf kleinen Inseln endemische Populationen. Wehrlos sind die flinken Winzlinge allerdings nicht. Zwar bringen die meisten Vertreter der Spitzmäuse nur wenige Gramm auf die Waage, in den Kampf ums Überleben bringen sie jedoch ein Arsenal herausragender Waffen mit.

Mit sieben bis 15 Gramm ist die Feldspitzmaus (Crocidura leucodon) ein Leichtgewicht. Ihr Lebensraum erstreckt sich über weite Teile Europas bis in den asiatischen Südwesten. Auch sie gehört der Gattung der Weißzahnspitzmäuse an.
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Ihre Entwicklungsgeschichte reicht mehr als 50 Millionen Jahre zurück, ein Erbe dessen sind noch heute Besonderheiten wie der giftige Speichel mancher Arten. Einige Vertreter wie die Hausspitzmaus sind ihrerseits immun gegen die normalerweise tödlichen Bisse gewisser Giftschlangen. Forschende fanden heraus, dass bestimmte Proteine die Wirkung des Schlangengifts hemmen. Diese Überlebensstrategie dürfte aus der frühen Evolutionsphase der Tiere stammen: Sie entwickelten sich in Zeiten, als Reptilien die Erde beherrschten, und mussten sich wohl an ein Dasein unter giftigen Fressfeinden anpassen.

Temporeiches Leben mit Echoortung

Als kleine Wunder der Evolution verfügen Spitzmäuse über eine Reihe erstaunlicher Anpassungsstrategien. Ein Kuriosum ist dabei die Waldspitzmaus, die im Winter schrumpft und etwa ein Fünftel ihres Körpergewichts einbüßt. Neben Organen und Knochen verliert sogar das Gehirn an Volumen, wie Forscher des Max-Planck-Instituts in Seewiesen feststellten. Diese temporäre Verringerung ist notwendig, da die Spitzmaus aufgrund ihrer enormen Stoffwechselrate meist schon nach wenigen Stunden ohne Nahrung verhungern würde.

Spitzmäuse leben ein Leben auf der Überholspur. Im Tierreich sind sie quasi die Kaffeejunkies auf Speed. Unentwegt wuseln sie in zackig-rasantem Sprung-Lauf auf der Suche nach Fressbarem umher. Dabei wirken sie immer auch etwas fahrig und unkoordiniert. Da sie schlecht sehen, verlassen sie sich bei der Jagd auf ihr Gehör, den Geruchs- und den Tastsinn. Mit ihren langen Schnurrhaaren können sie Beutetiere treffsicher erfühlen und von anderen Gegenständen unterscheiden. Zur Orientierung dient ihnen darüber hinaus ihre Fähigkeit zur Echoortung, die jedoch nur zur Erkundung der unmittelbaren Umgebung reicht.

Weltweit haben Spitzmäuse vielfältige Nischen und Lebensräume erschlossen. Die Wasserspitzmaus (Neomys fodiens), die größte Vertreterin ihrer Art in Europa, ist perfekt an das Dasein zu Wasser und Land angepasst.
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Ein Charakteristikum der kleinen Fressmaschinen kann ihnen mitunter zum Verhängnis werden: Ihr Herz schlägt zwischen 800- und 1.000-mal pro Minute. Wenn sie aufgeregt oder gestresst sind, steigt die Frequenz auf bis zu 1.500 Schläge in der Minute. So passiert es tatsächlich, dass Spitzmäuse vor Schreck tot umfallen. Sterben sie keinen verfrühten Herztod, werden sie zwischen ein und zwei Jahre alt. Keine sonderlich hohe Lebenserwartung – dank mancher Hochkultur sind sie aber ohnehin unsterblich.

Als Mumien konserviert

Im alten Ägypten wurden Spitzmäuse als pelzige Mini-Götter verehrt und dementsprechend für das Leben im Jenseits präpariert. Zu den kokonartig in Leinen gewickelten Überresten gehören oft mit Hieroglyphen verzierte und mit filigranen Figurinen geschmückte Bronze- oder Holzsärge. Eines dieser Artefakte reiste sogar bis Wien und wurde 2018 prominent in Szene gesetzt: Als der Regisseur Wes Anderson eine Sonderausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien kuratierte, wählte er auch eine Spitzmaus-Mumie im Sarg als Objekt. Titel der Schau: "Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures". Der bemalte Holzsarg ist in Saal IV der Ägyptisch-Orientalischen Sammlung des Museums zu besichtigen.

Für die Nachwelt wurden Spitzmäuse im alten Ägypten gerüstet. Dieser Sarg aus der Ägyptisch-Orientalischen Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien stammt vermutlich aus dem vierten Jahrhundert v. Chr.
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Um Anekdoten zur Spitzmaus zu finden, muss man in der Historie aber nicht bis zu den alten Ägyptern gehen. Trotz ihres Aussehens und ihres Namens gehören die Tiere nicht zu den Mäusen, sondern werden den Insektenfressern (Eulipotyphla) zugerechnet. Im Jahr 1942 wollte die Deutsche Gesellschaft für Säugetierkunde (DGS) diese Unschärfe der Benennung korrigieren. Der zoologisch irreführende Name sollte in "Spitzer" abgeändert werden. Dieses Ansinnen erzürnte Adolf Hitler dermaßen, dass er in einem Schreiben die sofortige Rücknahme der Änderung verlangte: "Wenn die Mitglieder der Gesellschaft für Säugetierkunde nichts Kriegswichtigeres und Klügeres zu tun hätten, dann könne man sie vielleicht einmal längere Zeit in Baubataillonen an der russischen Front verwenden", heißt es darin. Die DGS beugte sich, und die Spitzmaus heißt nach wie vor Spitzmaus. (Marlene Erhart, 2.1.2022)