Während in den westlichen Hauptstädten immer heftiger vor einem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine gewarnt wird, regiert im betroffenen Land selbst eine überraschende Gelassenheit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spielt die Bedrohung bei jeder Gelegenheit herunter und kritisiert die Verbündeten für ihre Panikmache, und auch in der Bevölkerung ist laut vielen Augenzeugenberichten von akuter Kriegsgefahr wenig zu spüren.

Das mag eine pragmatische Vorgangsweise sein: Die Angst vor einem Krieg richtet psychologischen und wirtschaftlichen Schaden an. Es kann auch Taktik sein: Kiew will Moskau keinen Vorwand für einen Angriff bieten. Aber womöglich glauben die Ukrainer tatsächlich, dass Wladimir Putin mit seiner militärischen Drohkulisse an der Grenze zwar die Nato zu Zugeständnissen drängen will, aber keine Absicht hat, sich auf einen blutigen Krieg mit dem Nachbarland und Brudervolk einzulassen.

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Die aktuelle Ukraine-Krise hat Wladimir Putin künstlich herbeigeführt.
Foto: REUTERS/SPUTNIK

Vielleicht haben die US-Geheimdienste recht, und der russische Präsident schlägt noch diese Woche los. Doch wenn das nicht geschieht, wäre es an der Zeit, die Eskalation der Warnungen zu beenden und wie die Ukraine eine Politik der Gelassenheit einzuschlagen.

Denn es kann gut sein, dass Putin noch viele Monate seine Truppen an der ukrainischen Grenze stehen lassen wird, um die dortige Führung in einem Zustand der Dauerspannung zu halten. Auf ähnliche Weise verfährt Russland auch mit anderen Nachbarn und glaubt, sich damit einen gewissen Einfluss zu sichern.

Kriegspropaganda

Durch die Beibehaltung des Status quo könnte Putin auch die Warnungen des Westens Lügen strafen und triumphierend verkünden, dass Russland das Opfer amerikanischer und europäischer Kriegspropaganda sei. Das wäre ein zwar teuer erkaufter, aber sicher befriedigender PR-Erfolg für den Kreml.

Was also tun, wenn sich die Krise weiter in die Länge zieht? Die Botschaft des Westens, dass ein Angriff auf die Ukraine für Russland schmerzhafte Folgen haben würde, ist inzwischen angekommen; ebenso dürfte der Kreml wissen, dass die Nato seinen Forderungen nach einem Rückzug aus Osteuropa auch nicht ansatzweise nachkommen wird. Und die Verteidigungskraft der Ukraine wird durch eine weitere Runde dringender Warnungen nicht gestärkt.

Stattdessen könnten USA und Nato Putin beim Wort nehmen und etwa folgendes Schreiben nach Moskau schicken:

"Sehr geehrter Herr Staatspräsident. Sie haben öffentlich erklärt, dass Sie mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine keine aggressiven Absichten verfolgen und die Sicherheit Ihres Nachbarlandes nicht gefährden. Wir sind bereit, Ihnen zu glauben. Wir versichern Ihnen ebenfalls, dass die Nato in ihrer jetzigen Struktur und auch nach einer allfälligen Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten keine Bedrohung der Sicherheit Russlands darstellt. In diesem Einvernehmen können wir die Krise für beendet erklären und über konkrete Schritte zur Stärkung der europäischen Sicherheitsarchitektur sprechen."

Die aktuelle Ukraine-Krise hat Putin künstlich herbeigeführt. Was er damit bezweckt, kann niemand genau sagen. Aber ihn damit ins Leere laufen zu lassen ist sicher keine schlechtere Taktik, als sein böses Spiel mit immer größerer Hektik mitzuspielen. (Eric Frey, 14.2.2022)