Die russische Invasion in der Ukraine ist nicht nur der erste Aggressionskrieg in Europa seit 1945 – sie hat auch eine in Größe und Geschwindigkeit bisher einzigartige Fluchtbewegung ausgelöst. Nach sieben Tagen Kampfhandlungen haben sich schon mehr als 836.000 Menschen in anderen, meist direkten Nachbarstaaten in Sicherheit gebracht.

Dort stoßen sie auf großzügige Aufnahmereitschaft, auf staatliche wie private Empfangskomitees, Hilfseinrichtungen und Informationsangebote. Kurz, auf eine Willkommenskultur, die in krassem Kontrast zu den bleiernen Jahren der Abschottungspolitik seit 2016 steht.

Flüchtlinge aus der Ukraine kommen am Berliner Hauptbahnhof an.
Foto: imago images/Jochen Eckel

Nun könnte sich auch die EU flüchtlingspolitisch bewegen. Beim heutigen Innenministerrat in Brüssel wurde erwartet, dass die Mitgliedsstaaten zum ersten Mal die Massenzustromrichtlinie aus dem Jahr 2001 in Kraft setzen. Sie würde den Ukrainerinnen und Ukrainern in der gesamten Union Aufenthaltssicherheit, Krankenversicherung und Arbeitsmarktzugang geben – befristet, aber verlängerbar.

Damit hätte die vor der Herausforderung des Umgangs mit vielleicht mehreren Millionen Kriegsflüchtlingen stehende EU einen wichtigen Schritt in Richtung Zusammenhalt vollzogen – bei einem Thema, das in den vergangenen Jahren nur für Streit und Spaltung sorgte. Das wäre höchst beachtlich.

Wie aber ist zu erklären, dass Beistand für Europäer und Europäerinnen in Not ganz offensichtlich anderen Regeln als Hilfe für außereuropäische Ankömmlinge gehorcht? Manche meinen, die Gefährdung der Ukraine-Flüchtlinge liege klar auf der Hand, während über die Balkan- und Mittelmeerroute viele Menschen ohne Schutzgründe kämen, die noch dazu schwer zu integrieren seien. Sie vergessen, dass sich Europa per Flüchtlingskonvention verpflichtet hat, das Asylrecht hochzuhalten und die Schutzgründe Ankommender zu prüfen – egal woher jemand kommt.

Doch wahrscheinlich liegt die Antwort auf die Frage nach dem unterschiedlichen Ausmaß der Hilfsbereitschaft abseits solcher Grundsatzüberlegungen. Es hat wohl schlicht mit Nähe zu tun. Bei Fluchtbewegungen fühlen sich Menschen in Nachbarländern meist mitbetroffen, sie öffnen ihre Türen und Herzen. Probleme mit Flüchtlingen gibt es weiter weg, in Staaten, in die Vertriebene weiterreisen, weil ihre Lage in den Erstankunftsländern inakzeptabel ist. Insofern ist der Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen für die EU eine echte Bewährungsprobe. (Irene Brickner, 3.3.2022)