Wenn der Zorn die Falschen trifft! In Krisenzeiten haben Hassprediger leichtes Spiel. Angst und Wut verengen den Blickwinkel vieler Menschen, und so sind sie bereit, denjenigen zu folgen, die mit einfachen Rezepten ihr politisches Menü kochen. Was Fremdenhass und Nationalismus anrichten können, wissen wir aus den dunkelsten Kapiteln der eigenen Geschichte.

Umso erschreckender, dass sich auch dieser Tage einige Menschen dazu hinreißen lassen, ihre Vorurteile gegenüber anderen auszuleben. Diesmal trifft es Russen. Wenn Studenten ihrer russischen Herkunft wegen aus dem Auditorium geschmissen oder Kinder gemobbt werden, dann ist dies nicht zu tolerieren.

Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine.
Foto: IMAGO/U. J. Alexander

Sicher: Kreml-Chef Wladimir Putin hat mit seinem Angriffsbefehl die größte humanitäre Krise Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs provoziert. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig, Bombenabwürfe auf Städte sind verbrecherisch. Solidarität mit der Ukraine ist gefordert, den Ukrainern, die zu Millionen aus dem Land fliehen mussten, zu helfen, oberstes Gebot.

Doch den Menschen in der Ukraine hilft es nicht, wenn nun Russen in Europa schikaniert werden. Denn Putin ist nicht Russland. Selbst wenn es der Kreml-Propaganda gelungen ist, viele Russen glauben zu machen, dass die russischen Soldaten in der Ukraine tatsächlich Landsleute von der Unterdrückung eines faschistischen Regimes befreien und die Sicherheit des eigenen Landes garantieren, so kann nicht ein ganzes Volk in Sippenhaft genommen werden. Die McCarthy-Ära darf sich im Westen nicht wiederholen.

Repressionen

Zumal es auch in Russland Tausende gibt, die sich gegen den Krieg aussprechen. Solche Statements erfordern in Moskau viel mehr Mut als in einem Wiener Café bei Melange und Apfelstrudel, denn Putin hat den "Nationalverrätern" nun unmissverständlich den Kampf angesagt: Wer nicht auf Linie ist, muss mit Repressionen rechnen. Die Medienlandschaft ist schon weitgehend leergefegt, soziale Netzwerke werden überwacht, und die ersten Strafverfahren wegen angeblicher Fake News sind eingeleitet.

Russen, die in Europa leben, sind ohnehin die falsche Adresse für Kritik an Putin. Viele von ihnen sind eben vor dessen Politik aus Russland geflohen. Gerade in den letzten Wochen hat eine beispiellose Fluchtwelle eingesetzt.

Dass Europa seinen Luftraum für Russland gesperrt hat, ist in dem Zusammenhang übrigens nicht gerade förderlich. Viele derjenigen, die sich an Europa orientiert haben, sind nun in Dubai, Eriwan, Istanbul und teilweise sogar Taschkent gestrandet. Die Abschottung der Europäer wird sie irritieren.

Noch schlimmer ist es bei denen, die es nach Europa geschafft haben und sich nun beschimpfen lassen müssen. Glücklicherweise sind Pöbeleien bisher Einzelfälle, doch auch diese sind zu viel. Solche Aktionen sind nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar schädlich im Kampf gegen Putin. Sie führen am Ende dazu, dass sich die Russen noch fester um ihren Führer scharen. Von der Kreml-Propaganda werden solche Vorfälle daher bereits genüsslich ausgeschlachtet.

So sollte Europa stattdessen sein Leitbild einer offenen Gesellschaft gerade in dieser konfliktbeladenen Zeit weiter stärken. Auf Dauer ist der Ansatz einer freien, humanitären und solidarischen Gesellschaft viel verlockender als der des dumpfen Nationalismus. (André Ballin, 17.3.2022)