Thomas Nowotny, Diplomat und Politikwissenschafter, schreibt in seinem Gastkommentar darüber, dass es eine eigenständige europäischen Verteidigung beruhend auf einer gemeinsamen europäischen Armee wohl brauchen wird. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Minxin Pei: "Neues Wettrüsten in Asien?".

Gäbe es in Russland und im restlichen Europa keine Atomwaffen, dann dürfte man sich etwas sicherer fühlen. Der von Österreich mitgestaltete Atomwaffenverbotsvertrag sollte Atomwaffen einfach abschaffen und damit auch Europa sicherer machen. Dieser Vertrag wurde aber weder von Russland noch von einer anderen Atommacht unterzeichnet und auch von keinem der europäischen Nato-Staaten. Er bleibt damit eine Geste wirkungsloser Symbolpolitik.

Nordkorea testete vor gut einer Woche eine atomwaffenfähige Interkontinentalrakete und erhöhte damit die Spannungen in der Region.
Foto: APA/AFP/KCNA

Es ist natürlich gefährlich und erhöht die Risken von Atomexplosionen, wenn es weiterhin Atomwaffen gibt und wenn in einer Konfrontation beide Seiten – jetzt Russland und der "Westen" – über Atomwaffen verfügen. Aber immerhin macht die Balance zwischen Drohung und Gegendrohung den Einsatz von Atomwaffen unwahrscheinlicher.

Wahrscheinlicher wird der Einsatz von Atomwaffen allerdings dann, wenn nur eine Seite in einem Konflikt und nicht die andere Seite über diese Waffen verfügt. Die russischen Atomwaffen werden zurzeit durch die atomaren Waffen der USA in Schach gehalten. Ob das auch weiterhin so bleiben wird, ist unsicher. Jetzt, anlässlich des russischen Krieges gegen die Ukraine, stehen die USA noch ganz an der Seite der Europäer. Das kann sich aber ändern. In der US-amerikanischen Öffentlichkeit verstärkt sich die Forderung nach einem Rückzug aus globalem Engagement und aus globaler Verantwortung. Das findet Eingang in die Politik und prägt zunehmend auch die Haltung der beiden großen Parteien im Land. Sollte bei den Präsidentschaftswahlen 2024 Donald Trump oder einer seiner Gesinnungsgenossen an die Macht kommen, dann wäre es möglich, dass der militärische und atomare Schutzschild der USA über Europa eingeklappt wird – Trump hat das ja schon einmal angedroht.

Kleine, "taktische" Atomwaffen

So wie schon früher die USA hat sich nun auch Russland dazu entschieden, seine Atomwaffen nicht bloß in Reaktion auf einen Atomschlag der Gegenseite einzusetzen, sondern von sich aus und als Erster, wenn wichtige Sicherheitsinteressen bedroht sind. Präsident Wladimir Putin hat zwei Mal erklärt, dass diese Bedrohung in der Sicht Russlands im Zuge des Krieges in der Ukraine gegeben sein könnte. Russland droht Europa also mit dem Atomkrieg. Verschärft wird die Plausibilität dieser Drohung durch die Tatsache, dass Russland über kleine, "taktische" Atomwaffen verfügt, und zwar über weitaus mehr als die USA. Sie haben eine geringere Sprengkraft als die großen, "strategischen" Atomwaffen. Dementsprechend groß ist die Versuchung, diese "kleineren Atomwaffen" so wie große, bloß "konventionelle Waffen" zum Einsatz zu bringen. Die USA haben einige ihrer taktischen Atomwaffen an europäische Staaten wie Deutschland, Spanien oder die Niederlande ausgelagert, von wo sie dann mit deutschen, niederländischen oder spanischen Kampfflugzeugen zum Einsatz transportiert werden. Die Entscheidung darüber bleibt aber weiterhin bei den USA.

Russische Drohung

Ist später wieder Trump oder seinesgleichen an der Macht und gilt es Europa vor einem russischen Großangriff zu schützen, dann wird es fraglich, ob die USA bereit wären, ihre Atomwaffen einzusetzen oder den Einsatz dieser Waffen anzudrohen. Schon jetzt, und trotz großer Solidarität mit Europa, hat US-Präsident Joe Biden darauf verzichtet, Putins atomarer Drohung mit einer atomaren Gegendrohung zu begegnen. Das entspringt dem verständlichen Wunsch, nicht vorzeitig an einer Eskalationsspirale zu drehen. Aber dieser Verzicht hat eben seinen Preis. Putin darf vermuten, dass er beim Einsatz von "kleinen" Atomwaffen mit keinem Gegenschlag rechnen müsste und eine russische Drohung mit einem Atomschlag die Europäer dazu veranlassen könnte, ihre militärische Unterstützung der Ukraine einzustellen.

"Europa wird wohl gezwungen sein, sich selbst mit Atomwaffen auszurüsten."

Da die Drohung durch russische Atomwaffen besteht und fortbestehen wird und da der Schutz durch US-Atomwaffen nicht länger verlässlich gegeben ist, wird Europa wohl gezwungen sein, sich selbst mit Atomwaffen auszurüsten. Das auch in Erwartung einer weiteren Verbreitung von Atomwaffen. Denn diese ist nach dem Zusammenbruch des einstigen bipolaren oder des zuletzt unipolaren Weltsystems wahrscheinlich. Sowohl im Mittleren wie auch im Fernen Osten gibt es Staaten, die sich existenziell bedroht fühlen. Es ist zu erwarten, dass sie versuchen werden, sich durch eigene Atomwaffen zu schützen. Diese Waffen könnten einmal auch gegen Europa gerichtet sein.

Dem müsste Europa eine eigene atomare Abschreckung entgegenstellen. Sie müsste auf einer gemeinsamen europäischen Verteidigung beruhen, auf einer gemeinsamen europäischen Armee. Die Entwicklung treibt in diese Richtung, wird aber noch viel Zeit beanspruchen. In der Zwischenzeit könnten die französischen Atomwaffen diese Funktion übernehmen.

Für die Menschheit insgesamt ist das keine sehr gute Entwicklung. Österreich sollte bemüht sein, diese Entwicklung zu bremsen oder umzukehren. Es muss sich aber auch darauf einstellen, dass ihm dabei der Erfolg versagt bleibt, und dass in einer Welt mit vielen Atommächten eine eigene europäische atomare Abschreckung unabdingbar ist. (Thomas Nowotny, 1.4.2022)