Minxin Pei, Professor für Politikwissenschaft am Claremont McKenna College, analysiert in seinem Gastkommentar, welche geopolitischen Auswirkungen der Angriff Russlands auf die Ukraine hat. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Thomas Nowotny: "Eine europäische atomare Abschreckung?".

Wie Wladimir Putins Endspiel in der Ukraine aussehen wird, bleibt unklar. Eine deutliche Botschaft scheint dieser Krieg allerdings auszusenden: Niemand legt sich mit dir an, wenn du Atomwaffen besitzt. Die damit verbundenen Sicherheitsrisiken können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Der Ukraine-Krieg hat jene Länder bestätigt, die ohnehin schon nach Atomwaffen strebten, und diese haben ihre diesbezüglichen Anstrengungen nun noch verstärkt. In den letzten Wochen ließ der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un mehrere öffentlichkeitswirksame Raketentests durchführen, darunter auch einen fehlgeschlagenen Test einer neuen ballistischen Interkontinentalrakete.

Bild nicht mehr verfügbar.

Das US-Verteidigungsministerium geht davon aus, dass China bis 2027 sein Atomwaffenarsenal verdoppelt hat.
Foto: AP/Mark Schiefelbein

Doch die Atommacht, die es zu beobachten gilt, ist China. Seitdem das Land im Jahr 1964 seinen ersten Atomwaffentest durchführte, verfolgt man eine Doktrin der minimalen Abschreckung – es werden im Wesentlichen nur so viele Atomwaffen erhalten, wie notwendig sind, um im Falle eines atomaren Angriffs einen Vergeltungsschlag durchführen zu können. Das sind heute etwa 350 Sprengköpfe. Im Vergleich dazu verfügen die USA über 5550 und Russland über 6000 derartige Waffen.

China ist also seit langem zu nuklearer Abschreckung in der Lage, hat es aber vermieden, hunderte Milliarden US-Dollar für den Aufbau eines großen Arsenals zu verschwenden – ein Aufwand, der wahrscheinlich ein atomares Wettrüsten in der Region ausgelöst hätte. Diesem Ansatz sind freilich auch Grenzen gesetzt. Im Falle eines Konflikts mit einer anderen Atommacht könnte China mit einem Präventivschlag und dem Einsatz von Raketenabwehr neutralisiert werden. Doch ein Krieg zwischen Atommächten schien so unwahrscheinlich, dass die Aufrechterhaltung eines Minimums an Abschreckung eine gute Wahl zu sein schien.

Massive Aufrüstung

Der sich verschärfende kalte Krieg mit den USA veränderte jedoch Chinas strategisches Kalkül. Im Dezember schätzte das US-Verteidigungsministerium, dass China anstrebe, sein Atomwaffenarsenal bis 2027 zu verdoppeln und sich bis 2030 1000 Sprengköpfe zuzulegen.

Nach dem Ukraine-Krieg wird China diese Bemühungen sicherlich verstärken. Das Land verfügt zweifellos über die Ressourcen für eine massive Aufrüstung. Und angesichts der nuklearen Drohungen Putins und der sich verschärfenden Spannungen in der Taiwan-Frage präsentiert sich der strategische Imperativ stärker denn je.

Doch die atomare Aufrüstung wird sich nicht auf China beschränken. Mehrere der wichtigsten Akteure in Asien werden jetzt in ein kostspieliges und gefährliches Wettrüsten hineingezogen, das die gesamte Region weniger sicher macht. Indien, Chinas regionaler Rivale, wird Anstrengungen unternehmen, sein eigenes Arsenal zu erweitern, und damit seinen Erzfeind Pakistan dazu veranlassen, das Gleiche zu tun.

"Die atomare Aufrüstung wird sich nicht auf China beschränken."

Dies würde nicht atomar bewaffnete Staaten in Ostasien wie Japan und Südkorea in eine Zwickmühle bringen. Der frühere japanische Premierminister Shinzo Abe hat Japan bereits aufgefordert, die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Erwägung zu ziehen. Obwohl der derzeitige Premierminister Fumio Kishida die Idee rasch zurückgewiesen hat, stellt der Vorschlag eine bedeutsame Wende in einem Land dar, das seit dem Zweiten Weltkrieg an den Grundsätzen der Nichtverbreitung von Kernwaffen festhält.

Sollte es in Asien zu einem nuklearen Wettrüsten kommen, wird die Bereitschaft der Länder, Tabus infrage zu stellen, wohl immer weiter um sich greifen. Sowohl in Japan als auch in Südkorea würden Atomwaffen das innenpolitische Thema Nummer eins werden, wobei sich die sicherheitspolitischen Falken wohl für deren Entwicklung einsetzen werden, auch wenn das die Beziehungen zu den USA gefährden würde, die atomare Weiterverbreitung als existenzielle Bedrohung sehen.

Angst vor Präventivschlägen

Schließlich könnte Taiwan beschließen, sich Atomwaffen als Versicherung gegen eine chinesische Invasion zuzulegen. Das würde jedoch mit ziemlicher Sicherheit genau eine solche Invasion auslösen. Der daraus resultierende Konflikt, an dem auch die USA beteiligt sein könnten, würde möglicherweise rasch zu einem Atomkrieg eskalieren.

Zur Vermeidung eines Atomkriegs verlässt sich die Welt seit langem auf den Grundsatz der gegenseitig zugesicherten Zerstörung. Dieses Prinzip mag Länder vielleicht davon abhalten, vorsätzlich Kriege vom Zaun zu brechen, kann aber nicht vor Pannen oder Fehleinschätzungen schützen. Je mehr Atomwaffen auf der Welt vorhanden sind und je größer die Angst der Länder vor Präventivschlägen ihrer Gegner ist, desto gravierender präsentieren sich die Risiken.

Putins Krieg in der Ukraine könnte den letzten Rest strategischer Stabilität in der Region dahinraffen, weil damit ein Argument für mehr Atomwaffen in Asien geschaffen wird. Das stellt nicht nur eine existenzielle Bedrohung für Asien dar, sondern wäre auch ein weiterer Schlag gegen das globale Nichtverbreitungsregime, der es noch schwieriger machen würde, die Ausbreitung derartiger Waffen in anderen Regionen zu verhindern. (Minxin Pei, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 1.4.2022)