Ein stufenweiser Beitritt wäre eine wirtschaftlich wie politisch lohnende Alternative, schlagen der Ökonom Thomas Wieser und die früheren Diplomaten Stefan Lehne und Dietmar Schweisgut im Gastkommentar vor.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte Präsident Wolodymyr Selenskyj einen beschleunigten Beitritt in Aussicht.
Foto: EPA / Ukrainische Präsidentschaftskanzlei

Der Krieg in der Ukraine hat viele Gewissheiten über den Haufen geworfen. Fragen der kollektiven Sicherheit stellen sich heute ganz anders dar als noch vor wenigen Monaten, und sind nicht nur im Kontext einer möglichen Nato-Erweiterung, sondern auch im Zusammenhang mit der künftigen Rolle der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft zu sehen.

Die Geschichte der Ukraine wurde über Jahrhunderte von Krieg, Gewalt und Fremdherrschaft geprägt, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass der Historiker Timothy Snyder von The Bloodlands spricht. Erstaunlich erscheint einem da das kollektive Unverständnis des westlichen Europa für die politische, geradezu geopolitische, Bedeutung der Ukraine für die Entwicklung Europas.

Das Verständnis hat sich nun wohl gewandelt, aber die Kosten der Sicherstellung von Frieden und Wohlstand sind exponentiell gestiegen. Die Annexion der Krim und der Angriffskrieg Russlands seit dem 24. Februar haben uns deutlich vor Augen geführt, dass Handel und wirtschaftliche Verflechtungen nicht notwendigerweise Frieden stiften und erhalten.

"Die Beitrittsperspektive ist eine hochpolitische Frage, die abseits ökonomischer oder anderer eher sachlicher Kriterien entschieden werden wird, und dies möglicherweise sehr bald."

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion ist nicht gerade eine Erfolgsgeschichte. Eine Reihe von Programmen des Internationalen Währungsfonds, auch unterstützt von EU-Zahlungsbilanzhilfen, professionell strukturierte Programme der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, all dies hat grassierende Korruption, Milliardengewinne weniger Oligarchen und massive regionale und soziale Ungleichheit nicht beseitigen können. Dennoch: Gerade der Krieg, von dem wir ja nicht wissen, wann und wie er denn enden wird, birgt eine Chance für einen Neuanfang in sich. Inzwischen wird er auch mit einem EU-Beitritt in Verbindung gebracht, der langfristig Sicherheit, Rechtssicherheit und wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringen soll.

Wie realistisch ist dies? Klar ist, dass die Beitrittsperspektive eine hochpolitische Frage ist, die abseits ökonomischer oder anderer eher sachlicher Kriterien entschieden werden wird, und dies möglicherweise sehr bald. Tatsache ist, dass der Widerstand der Ukraine gegen die russischen Expansionsbestrebungen in unser aller Interesse liegt. Vor diesem Hintergrund wird sich kaum jemand gegen den Wunsch der Ukraine, an der europäischen Integration teilzunehmen, aussprechen können.

Grundsätzliche Fragen

Klar ist auch, dass dies eine Reihe sehr grundsätzlicher Fragen für die EU aufwirft, die rasch zu beantworten sind. Manche dieser Fragen hätten übrigens bereits vor den letzten Erweiterungen gelöst werden müssen. Die politische Blockade der notwendigen institutionellen Reformen der EU betrifft ja nicht nur die mögliche EU-Perspektive der Ukraine, sondern auch jene von Georgien und Moldau und in noch viel höherem Ausmaß die ewig anmutende Warteschleife der Staaten des Westbalkans.

Dies hat durchaus auch plausible Gründe. Schwere Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, die Unterwanderung politischer Institutionen durch kriminelle Seilschaften, massive wirtschaftliche Probleme: All dies sind Probleme dieser Staaten, die – ungelöst – zu Problemen der Union werden würden. Ähnliche Defizite in manchen Mitgliedsstaaten kennt die EU bereits. Dies ist nicht nur für sich genommen ein Problem, sondern vor allem für die Kohärenz und Entscheidungsfähigkeit der Union und damit auch für ein geschlossenes Auftreten nach außen.

Das Erweiterungsdilemma

Wie kann man mit diesem Dilemma umgehen? Einerseits die wirtschaftlichen und politischen Vorteile einer EU-Erweiterung sowie die Sicherung einer weitgehend friedlichen Entwicklung auch im Südosten und Osten Europas, andererseits die daraus resultierende Gefahr der Lähmung europäischer Entscheidungsprozesse und der weiteren Integration. Die derzeitige Lösung ist unbefriedigend. Das Problem der politischen Dysfunktionalität mancher Mitgliedsstaaten wird weitestgehend resignierend zu Kenntnis genommen. Dafür wird der Beitrittsprozess beitrittswilliger Staaten um Jahre, möglicherweise um Jahrzehnte verzögert.

Eine wirtschaftlich und politisch lohnendere Alternative wäre eine stufenweise konvergierende EU-Mitgliedschaft. Eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt der EU würde wesentliche Teile der "klassischen" EU abdecken. Dies sollte diesen Ländern auch sämtliche Möglichkeiten der Regional- und Strukturfinanzierung erschließen. In weiterer Folge, und nach Erreichen gewisser Standards, kann die EU-Mitgliedschaft dann Zug um Zug auf andere Gebiete ausgeweitet werden. Entsprechende institutionelle Anpassungen sind die Voraussetzung dafür, dass die Entscheidungsfähigkeit der EU in vollem Umfang gewahrt bleibt. Die Einbeziehung in die Währungsunion und bei einigen Ländern auch der Schengen-Beitritt sind wohl nur langfristig realisierbar.

Realistische Perspektive

Nach diesem Modell können auch die Ukraine, Moldawien und Georgien eine realistische Beitrittsperspektive erhalten. Und die lange stagnierende Aufnahme der Westbalkanstaaten könnte endlich dynamisiert werden. Diese Staaten würden schrittweise in die Integration einbezogen werden, ohne den internen und externen Zusammenhalt der EU zu gefährden.

Die für Europa vernünftige Variante ist daher, ein Europa der differenzierten Integration zu schaffen. Nicht jeder muss, und nicht jeder soll an allen Integrationsschritten teilnehmen, vor allem an jenen Integrationsschritten, die aus guten Gründen Einstimmigkeit erfordern, da sie zentrale Bereiche staatlicher Souveränität betreffen. Und vielleicht findet der eine oder andere derzeitige Mitgliedsstaat auch Gefallen an einer Mitgliedschaft mit weniger Rechten, aber eben auch weniger Pflichten. Nur eine flexiblere Union kann für weitere Beitritte offen bleiben und gleichzeitig ihre Handlungsfähigkeit bewahren und stärken. (Thomas Wieser, Stefan Lehne, Dietmar Schweisgut, 23.4.2022)