Fachdidaktikerin Sonja Kramer wundert sich in ihrem Gastkommentar über die Fragestellungen bei der Mathematikmatura.

Auf die standardisierte schriftliche Reifeprüfung in Mathematik bei den allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) gab es in diesem Jahr medial so wenig Reaktionen wie selten zuvor. Woran liegt das? Liegt es daran, dass die Aufgabenstellungen in diesem Jahr einfach erschienen und daher wenig schlechte Noten zu befürchten sind, oder auch einfach daran, dass jede Aufregung irgendwann abflacht? Die Beantwortung dieser Fragen fällt in den Bereich der Spekulation. Viel wichtiger erscheint mir die Frage, nach welchen Kriterien die Gestaltung der Reifeprüfung in Mathematik als gelungen oder zumindest entsprechend klassifiziert werden kann.

Wieder einmal sorgen die Aufgaben in Mathematik bei der Zentralmatura für Kritik.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Die standardisierte Reifeprüfung ist seit 2015 flächendeckend im Einsatz. Derart systemverändernde Projekte bedürfen einer gründlichen Evaluation. Aber da tun sich auch schon die nächsten Fragen auf: Auf welcher Basis kann dieses Projekt evaluiert werden? Liegt der standardisierten schriftlichen Reifeprüfung in Mathematik noch ein kohärentes, wissenschaftsbasiertes, fachdidaktisches Konzept zugrunde? Vergleicht man die Grundkonzepte aus dem Jahr 2013 und dem Jahr 2021, fällt auf, dass bei der Neuauflage aus dem Jahr 2021 vieles aus dem Konzept 2013 übernommen wurde – nur das Herzstück des Konzepts, die bildungstheoretische Grundlage, scheint nicht mehr auf.

Betrachtet man die Aufgabenstellungen, so lässt sich hinsichtlich der Auswahl in Bezug auf das Anforderungsniveau, die Zusammenstellung, das Maß an realitätsferner Einkleidung und vieles mehr durchaus diskutieren. Michael Himmelsbach hat das in seinem Gastkommentar "Mathematikmatura: Der Einstieg als Zumutung" bereits getan. Seiner Betrachtung der Teil-1-Aufgaben stimme ich inhaltlich überwiegend zu. Anders sehe ich seine Anmerkungen zu Teil 2 der Maturaaufgaben: Hier fehlen mir der im (ursprünglichen) Konzept geforderte Anlass zur Reflexion und auch ein einem Teil 2 gebührendes Maß an Vernetzung, was wahrscheinlich dem geschuldet ist, dass 14 der 16 Aufgaben in diesem Teil im Grunde Teil-1-Aufgaben sind. Die Aufgabenstellungen lassen sich jedoch nur dann sachlich bewerten, wenn ihnen ein wissenschaftlich fundiertes Konzept zugrunde liegt – und das fehlt.

Die richtigen Aufgaben?

Beim heurigen Termin wurde der Weg in Richtung "Abprüfen von trainierbarem Wissen" offensichtlich. Der Anteil an rechenlastigen Aufgaben ist ungewöhnlich hoch. Aufgabenstellungen, die Begründungs-, Interpretations- oder Reflexionsanlass bieten, findet man kaum. Das ist natürlich ein gangbarer Weg – nur: Wer bestimmt, ob das auch zielführend ist? Wer kann ohne entsprechende Evaluation begründen, dass die Zentralmatura, so wie sie gestellt ist, das abprüft, was mathematischer Grundbildung (im Sinne der Allgemeinbildung) entspricht oder gar für eine weitere tertiäre Bildungseinrichtung gebraucht wird? Auf welcher Basis rechtfertigen diese Aufgabenstellungen zwölf Jahre Mathematikunterricht? Ist es das Ziel, dass unsere Maturantinnen und Maturanten nach zwölf Jahren Unterricht erkennen können, dass 250 ml Orangensaft weniger als 100 mg Vitamin C enthalten, wenn 100 ml Orangensaft 35 mg Vitamin C aufweisen (Aufgabe 28 b1)?

Herz und Verstand

Aus einem Rundschreiben an AHS-Direktorinnen und -Direktoren Anfang Mai wird Michael Eichmair, Sprecher der vom ehemaligen Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) eingesetzten Beratungsgruppe, folgendermaßen zitiert: "Der diesjährige Haupttermin der SRP (schriftlichen Reifeprüfung, Anm.) Mathematik am 3. Mai hat von uns sehr viel Liebe und Sorgfalt erfahren. […] Das mit der Liebe und der Sorgfalt weiß ich aber ganz genau, weil ich mit Herz und Verstand darüber gewacht habe […]."

Das ist sehr löblich, nur wäre es angesichts der Verantwortung – nicht zuletzt den Maturantinnen und Maturanten gegenüber – und auch der internationalen Vergleichbarkeit, die eine Zentralmatura aufweisen sollte, wohl besser, wenn der Sicht der Fachdidaktik und einer fundierten bildungstheoretischen Grundlage mehr Beachtung geschenkt werden würde. Zugleich wirft dieses Schreiben auch schon die nächste Frage auf: Bei wem liegt die Verantwortung dieses Projekts? Bis vor zwei Jahren lag sie noch ganz klar bei der Referatsleitung der Abteilung III/6 des Bildungsministeriums. Jetzt scheint dies anders zu sein. (Sonja Kramer, 19.5.2022)