China befürchtet, dass ihm die Situation in Taiwan aus der Hand gleitet, schreibt Politikwissenschafter Minxin Pei in seinem Gastkommentar.

Wie zu erwarten war, hat der Taiwan-Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in China heftige Reaktionen ausgelöst. Chinesische Kampfflugzeuge flogen dicht an die sogenannte Medianlinie in der Formosastraße heran. Das Außenministerium drohte, Pelosis Reise auf die Insel werde "schwerwiegende Folgen" haben. Präsident Xi Jinping warnte den US-Präsidenten Joe Biden, "wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um". Und für den Tag nach Pelosis Abreise wurde eine große Militärübung mit scharfer Munition angekündigt. Eine militärische Konfrontation scheint wie eine Gewitterwolke in der Luft zu liegen.

Touristen auf der chinesischen Insel Pingtan beobachten einen Militärhubschrauber. China hält noch bis Sonntag nahe Taiwan eine Militärübung ab.
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Die aktuell sehr aufgeheizte Atmosphäre in diesem Konflikt lässt sich jedoch kaum Pelosi anlasten. Selbst wenn sie bei ihrer Asienrundreise auf einen Besuch Taipehs verzichtet hätte, hätte sich die Feindseligkeit Chinas gegenüber Taiwan weiter verstärkt. Der Grund dafür ist jedoch nicht, dass Xi während seiner Amtszeit Taiwan unbedingt in die Volksrepublik eingliedern will. Obwohl die Wiedervereinigung tatsächlich sein langfristiges Ziel ist – und sein Lebenswerk und die Arbeit der Kommunistischen Partei Chinas krönen würde –, wäre jeder Versuch, dieses Ziel mit Gewalt zu erreichen, enorm kostspielig. Er wäre sogar mit einem existenziellen Risiko für das Regime verbunden, weil die Partei eine gescheiterte Militäraktion womöglich nicht überleben würde.

Wichtiger Wendepunkt

Eine chinesische Invasion Taiwans hätte erst dann gute Erfolgschancen, wenn China seine Wirtschaft von den Folgen westlicher Sanktionen isoliert und ausreichend militärische Kapazitäten aufgebaut hat, die die USA zuverlässig von einer eigenen Militärbeteiligung abhalten. Jeder dieser Prozesse würde mindestens zehn Jahre dauern. Die wichtigsten Gründe für Chinas Säbelrasseln in jüngster Zeit sind viel direkter. Chinas Regierung signalisiert der Führung Taiwans und deren Unterstützern im Westen, dass sich deren Beziehungen zueinander und zu China in eine inakzeptable Richtung bewegen. Sie sollen verstehen, dass China keine andere Wahl hat, als den Konflikt zu eskalieren, wenn sie ihren Kurs nicht ändern.

Bis vor gar nicht so langer Zeit fand die chinesische Führung die Situation in der Formosastraße problematisch, aber erträglich. Solange Taiwan von der traditionell chinafreundlichen Partei Kuomintang (KMT) regiert wurde, konnte sich China eine langfristige Strategie leisten und versuchen, Taiwan durch wirtschaftliche und diplomatische Integration sowie militärischen Druck schrittweise zur friedlichen Wiedervereinigung zu drängen. Im Jänner 2016 kam jedoch die für die Unabhängigkeit von China eintretende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) wieder an die Macht und brachte Chinas Pläne ins Wanken.

"Der Krieg in der Ukraine hat bei den westlichen Staats- und Regierungschefs nun anscheinend das Gefühl geweckt, Taiwan sei in ernster und akuter Gefahr."

Es lässt sich schwer sagen, ab welchem Punkt der neue Status quo für China unerträglich wurde. Ein wichtiger Wendepunkt war wohl der Jänner 2020, als die Präsidentin Taiwans, Tsai Ing-wen von der DPP, mühelos eine zweite Amtszeit erreichte und ihre Partei der KMT bei der Parlamentswahl eine vernichtende Niederlage beibrachte. Je stärker sich die politische Dominanz der DPP verfestigt, desto weiter rückt der chinesische Traum von einer friedlichen Wiedervereinigung in die Ferne.

Die schrittweisen Verschiebungen in der Taiwan-Politik der USA machten die Sache auch nicht besser. In Donald Trumps Amtszeit erlaubten die USA wieder Kontakte zwischen US-Offiziellen und taiwanesischen Amtskollegen, es gab subtile Veränderungen in der Formulierung der Ein-China-Politik, bei der die Verpflichtungen der USA gegenüber Taiwan stärker betont wurden, und das Land verlegte hochmoderne Waffensysteme auf die Insel. Auch unter Biden setzten sich diese Provokationen fort. Letztes Jahr führten die US-Marines ganz offen eine Ausbildungsmission für taiwanesische Soldaten durch. Und im Mai kündigte Biden an, die USA würden bei einem Angriff Chinas auf Taiwan militärisch eingreifen – was allerdings vom Weißen Haus schnell relativiert wurde.

Keine Abschreckung

Der Krieg in der Ukraine hat bei den westlichen Staats- und Regierungschefs nun anscheinend das Gefühl geweckt, Taiwan sei in ernster und akuter Gefahr. Sie scheinen zu glauben, nur eine massive und lautstarke Unterstützung, zu der auch hochrangige Besuche und Militärhilfen gehören, könne einen chinesischen Angriff noch verhindern. Dabei erkennen sie nicht, dass ihre Unterstützung Taiwans aus chinesischer Sicht vor allem wie der Versuch aussieht, China zu demütigen. Deshalb ist sie eher Provokation als Abschreckung.

China befürchtet, dass ihm die Situation aus der Hand gleitet, wenn die Führung der DPP und ihre Verbündeten im Westen nicht für ihre Affronts büßen müssen. Das würde nicht nur Xis Chancen schmälern, sein langfristiges Ziel – die Wiedervereinigung – zu erreichen, sondern könnte ihn auch schwach erscheinen lassen und dadurch seine Position innerhalb und außerhalb Chinas untergraben.

Fatale Mutprobe

China plant vermutlich keinen schnellen und vorsätzlichen Angriff auf Taiwan. Aber womöglich wird es die USA in der Formosastraße zu einer fatalen Mutprobe herausfordern. Form und Zeitpunkt einer solchen Konfrontation lassen sich nicht exakt vorhersagen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass sie extrem gefährlich wäre, weil China glaubt, dass nur beim Spiel mit dem Feuer alle Spieler mit voller Konzentration dabei sind.

Wie die Kubakrise im Jahr 1962 könnte auch eine neue Formosakrise am Ende den Status quo stabilisieren – wenn auch nach ein paar nervenaufreibenden Tagen. Womöglich ist genau das Chinas Plan. Ein solches Gambit könnte aber auch fürchterlich schiefgehen. Wir sollten nicht vergessen, dass im Jahr 1962 nur mit viel Glück ein Atomkrieg verhindert wurde. (Minxin Pei, Copyright: Project Syndicate, 5.8.2022)