Ethnologin Elsbeth Wallnöfer schreibt in ihrem Gastkommentar über das Wesen Tirols und den "in der ÖVP inkarnierten, wirtschaftstheologischen Konservativismus".

Konservativismus und Katholizismus haben das Bundesland Tirol fest im Griff. Wird sich das nach der Landtagswahl ändern? Die ÖVP steht unter Druck. Umfragen zufolge befindet sich die Partei in einem Abwärtstrend.
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Die Spitzbuam", das "Original Tiroler Echo", die "Zillertaler Gipfelstürmer", Spatzen hin und Geier her, "dem Land die Treue" wiegt schwer, denn der sentimentalen Bekenntnisse bedarf Tirol, wie der Skilifte, Hotelbauten und der gefühlsseligen Heimatabende von beängstigend friedvoll singenden Familien. Tirol scheint eine liebreizende Harmonie von Trachtlern, Volksmusik, Schlagersängern und Skifahrern zu sein. Selbst die kampfeslustigen Schützen, die – vereint im Phantasma eines Abwehrkampfes – sich jeden Morgen mental in Stellung bringen, sind Teil dieser binnenexotischen Kasperliade.

Die Tiroler brillieren immer öfter mit der einen oder anderen ausgefallenen Performance, die ein tieferliegendes Problem offenbart: Tirols manifesten, in der ÖVP inkarnierten, wirtschaftstheologischen Konservativismus. Dieser ist einem altehrwürdigen, verzwickten monarchistischen Katholizismus geschuldet wie einer langandauernden, romantisierenden Fremdzuschreibung früher Reisender. Das aktuell repräsentative Tirol ist sich in Folgsamkeit, Gebet und Portjuchhe verbunden.

Folkloristisch-patriotische Fantasie

Darüber hinaus krankt es an einer sich reproduzierenden folkloristisch-patriotischen Fantasie. So böte die bevorstehende Wahl die Chance, sich von der gauklerischen Frömmigkeit und Selbstunterwerfung unter die ÖVP zu lösen. Denn diese erodiert seit der autokratischen Umfärbung durch einen Wiener Parvenu auch in Tirol und legt, höchst an der Zeit, die Schwächen der Tiroler Volkspartei offen: nur mehr Partei für eine gefräßige Partikularpartie zu sein. Da liegt sie also, die (nicht von der SPÖ) weidwund geschossene Tiroler ÖVP, die selbst Wiener Bundespräsidentenanwärtern wie Benita Ferrero-Waldner bundesweit am meisten Stimmen bescherte, darnieder. In ehelichem Verbund mit den Grünen, spiegelt Tirol die Bundesregierung und konturiert sämtliche, überlappende Charakterschwächen.

"Das aktuell repräsentative Tirol ist sich in Folgsamkeit, Gebet und Portjuchhe verbunden."

Die mit einer zu langen Regentschaft einhergehende Déformation professionnelle, die maßlose Raffgier, eine übersteigerte Selbstbezogenheit ließen die Volkspartei jedes Gespür für sozialpolitische Ansinnen und Kulturpolitik verlustig gehen. Das Äußerste an Sozialpolitik in Tirol ist, wenn der oberste Arbeiterkämmerer auch aus dem Schmalztopf der ÖVP kommt – derart wurde die Sozialdemokratie durch diese im Chor mit der Kirche vermaledeit.

So kam es, dass das heutige Tirol ein gleichnishaftes Schauspiel vom Ruach und vom Prasser ist, dramaturgisch gleichermaßen Provinzposse wie Nationaltheater. Das offizielle Tirol erweckt den Eindruck, nicht nur Choreograf einer fahrlässig-tolldreisten Ischgl’schen Szenerie zu sein, es duldet auch Abgeordnete, die in ihren Mehrfachfunktionen (Skilift- und Hoteleigentümerinnen) mit ihrem aufgeblähten Gekläffe in Richtung Wien inzwischen Leute außer- wie innerhalb der Partei beschämen. So bleibt zu erwarten, dass das sich abzeichnende Fiasko bei der bevorstehenden Landtagswahl der ehemals schwarzen Volkspartei – in der Platz für die Schulwartin, den Pistenraupenfahrer, die Professorin war – zu ihrer sittlichen Reinigung genutzt wird.

Über Jahre gepflegte Dämonisierung

Liebe Tiroler und Tirolerinnen, lasst euch anempfohlen sein, euch einmal ums eigene Panorama zu drehen, und ihr werdet sehen, was das Land braucht: eine solide Sozialpolitik und eine kompromisslos-konsequente Umweltpolitik. Legt eure Angst vor der über Jahre gepflegten Dämonisierung der Sozialdemokratie ab, denn die Kollektivverträge Tirols werden weder von der Kanzel herab diktiert noch vom Bischof besiegelt.

Zur Erneuerung des Wirtschaftswesens stünde mit den Neos eine programmatisch ausgewiesene Alternative zur Verfügung. Und die Grünen? Deren behaglicher Konservativismus bedarf der Emanzipation, wenn nicht gar der Revolte, insbesondere gegenüber der Volkspartei wie der desaströsen Bundespolitik. Jene, die über ein zureichendes Maß an Widerspruchsgeist verfügen, die umweltfreundlich und transit-kritisch denken, denen böte sich die Liste Fritz als Alternative an.

"Verabschiedet euch vom reflexartig volkstumspolitischen Habitus, vom starren Konservativismus!"

Bleibt noch die Erkundigung nach der FPÖ. Während Krisen wie diesen braucht kein Land, keine Region, kein Dorf eine organisierte gesellschaftszersetzende Kraft, die ihre Meriten vom Gift-und-Galle-Speien bezieht, deren Ex-negativo-Mechanismus von der konsequenten Ablehnung der Vorhaben anderer in Schwung gehalten wird; stets apokalyptisch ausgerichtet und am Rande tolerabler Impulskontrolle operierend.

Tiroler, eure rustikale Darbietung trägt nur bedingt zur allgemeinen Erheiterung unter Europas Völkern bei. Ja, eure Frömmigkeitsrituale dienen der Befriedung und der Gewinnsteigerung nach innen, aber lasst euch gesagt sein, ihr stellt nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung. In eurem Land gibt es exzellente Jazz- und Popmusikerinnen, international geschätzte Künstler, Designer, kluge Völkerrechtler, queere Ingenieure, schwule Forscher. Verabschiedet euch vom reflexartig volkstumspolitischen Habitus, vom starren Konservativismus, hört auf, euch als extraordinärer Volksstamm zu gebärden. Ihr seid auch nur wie wir: aufgehoben oder verloren in der Heimat. (Elsbeth Wallnöfer, 3.9.2022)