Als ich Haile Gebrselassie ein Jahr nach einem Event wieder sah, fragte er nach meiner Mutter. "Did she start running? Is she enjoying it? Please tell her that I am proud of her."

Ich war – gelinde gesagt – sprachlos. Zunächst einmal, weil der Säulenheilige der Laufwelt sich überhaupt an mich erinnerte.

Ich hatte ihn ein Jahr zuvor beim "Great Ethiopian Run" in Addis Abeba mit einer Gruppe getroffen. Ein klassisches "Meet-&-Greet", das der Star 1.000-mal erlebt hat. Aber Haile wusste trotzdem, was ich damals, nachdem die Gruppe ihre Verehrer-Fragen über ihn, Olympia und den Ruhm gestellt hatte, gefragt hatte: "Am anderen Ende der Skala sind die Jedermenschläufer. Menschen, die oft vor dem ersten Schritt Angst haben. Nehmen wir meine Mutter, eine Pensionistin: Wie bringt man die zum Laufen – und wie behält man sie dort?"

Foto: Robert Bauer

Haile Gebrselassie hatte es da schon längst eilig gehabt. Aber er nahm sich für die Antwort fast zehn Minuten Zeit. "Because this matters." Wow.

Aber dass sich die Legende ein Jahr später in einem ganz anderen Umfeld von sich aus daran erinnerte und es ihm – während einer Pressekonferenz – ein Anliegen war, einer ihm Unbekannten für ihr Laufen Respekt zu zollen: Doppelwow.

Warum das heute hier steht? Lesen Sie die Kommentare der letzten Kolumne. Wie und in welchem Ton dort nicht nur die Leistung, sondern vor allem die Freude und der Stolz von Tausenden, die sich ihren subjektiven Marathontriumph hart erkämpften, für null, nichtig und unzulässig erklärt wurde, ist – sagen wir mal – "lesenswert".

Foto: ausdauercoach.at

Oder: Eigentlich ja nicht. Auch, weil derlei immer wieder kommt: Was für andere ein Traum ist, wofür sie lange schwer arbeiten, Entbehrungen und Schmerzen auf sich nehmen, wird für wertlos und lächerlich erklärt. Weil man – ich bleibe bewusst männlich – es angeblich viel besser drauf hat. Und sich daher anmaßt, auf alles unter dem eigenen Niveau zu spucken.

Dass der Schutz der Anonymität jede – egal welche – behauptete Überlegenheit (höflich formuliert) auf wackeligen Beinen stehen lässt? Ja eh.

Dass man Trolle nicht füttern soll? Ja, das weiß ich auch.

Foto: Tom Rottenberg

Dennoch greife ich das Thema hier heute auf. Weil Menschen, die den Umgang mit Troll-Geifer und "Heckenbrunzern" nicht gewohnt sind, derlei mitunter dann doch trifft. Auf Social Media wird ja speziell Frauen insbesondere durch permanentes Sexualisieren hart erarbeiteter Erfolg gerne mies gemacht.

Wer gelernt hat drüberzustehen, hat Glück. Aber permanentes Angepöbeltwerden und Bodyshaming aus der Anonymität heraus ist für Menschen, die dieses Dauerfeuer an Beleidigungen nicht gewohnt sind, oft etwas, das dann auch das "echte Leben" beeinträchtigen kann.

Das ist ein anderes Thema? Nur bedingt:

Da es den Begriff "Sport-" oder "Performanceshaming" bis jetzt – so viel ich weiß – nicht gibt, möchte ich ihn eben hier und heute einführen.

Foto: Tom Rottenberg

Sie können jetzt natürlich einwenden, dass unsympathische Großkotzigkeit in anonymen Kommentaren doch niemanden davon abhalten wird, sich Laufschuhe anzuziehen.

Das glaubte ich auch lange – und lag falsch: Die Angst vor dem, was andere sagen, ist mitunter ein echter Hemmschuh, mit dem Sich-Bewegen überhaupt zu beginnen. Als mir die Wiener Läuferin Naddy Mayer erzählte, dass sie sich aus Angst vor Kommentaren anfangs nur spätabends oder gar nachts zum Laufen auf die Straße traute oder auf dem Laufband nur lief, wenn sie sich unsichtbar wähnte, dachte ich: "Gschichtl."

Mittlerweile habe ich dieses Gschichtln zu oft und aus zu vielen Mündern (und Foren) von zu vielen davon Betroffenen gehört und gelesen.

Foto: Tom Rottenberg

Eine "Gegengeschichte" dazu gibt es aber: Einst schwamm ich hin und wieder mit Markus Rogan im gleichen Gym-Pool. Nebenan war Aqua-Aerobic: eine perfekte, weil gelenkschonende, Trainingsform für Übergewichtige.

Ein – dezent geschätzt – 150 Kilo schwerer Mann rackerte sich da regelmäßig neben uns im Wasser ab. Als dann in der Garderobe jemand lästerte, wie "unästhetisch" dieser Anblick sei, wurde Rogan laut: "Ich bewundere diesen Mann."

Der Lästerer: "Was? Wieso? Der ist doch nur blad und schiach!"

Rogan: "Du und ich, wir machen unser Leben lang Sport. Kannst du dir vorstellen, wie schwer es ist, zu beginnen, wenn man jahrelang so gelebt hat und so beinand ist, wie der? Das braucht unendliche Kraft: Der Typ ist ein Held." Als ich mich ein paar Tage später bei Rogan bedankte, hatte er die Episode längst vergessen.

Foto: Tom Rottenberg

Solche Erlebnisse sind bezeichnend – und keine Stand-alones:

Wer wirklich was drauf hat, hat es nämlich nicht nötig, sich selbst größer zu machen. Schon gar nicht, indem er sich auf andere draufstellt.

Im Gegenteil: Gerade Eliteathletinnen und -athleten wissen genau, was es bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen – und wie sehr Lob und Anerkennung da beflügeln.

Auch dazu eine Geschichte: Vor gefühlt 1.000 Jahren interviewte ich Reinhold Messner. In einer Drehpause fragte er nach meiner alpinen Geschichte.

Ich: "Das ist grotesk. Wie irrelevant sind meine Hügel gegen deine Achttausender!"

Er: "Das darfst du nie wieder sagen und auch nicht denken: Extremsport beginnt dort, wo du einen Schritt weiter gehst, als du es dir selbst gestern zugetraut hättest."

Ob das nur auf dem Berg gilt? Ich habe mich ein wenig umgehört.

Foto: Mariella Senegacnik-Rainer

Als Ersten "erwischte" ich Andreas Vojta. "Ich käme nie auf die Idee, das, was Hobbyläufer auf die Straße bringen, gering zu schätzen", betont der x-fache Staatsmeister über fünf und zehn Kilometer, Olympiastarter und Marathonläufer. "Im Gegenteil: Wer sich bewegt, verdient Respekt, denn es geht nur darum, sich selbst zu besiegen."

Gerade Profiathleten, so Vojta, nötigten Einsatz und Leidenschaft von "Hobetten" allerhöchste Anerkennung ab: "Als Profi richte ich mein ganzes Leben auf das Ziel und das dafür optimierte Training aus. Hobbyläufer haben aber zunächst Beruf und Familie – und oft gar nicht die Möglichkeit, so viel und so gezielt zu trainieren und sich richtig zu erholen. Sie haben dann im Bewerb eine höhere Belastungsdauer bei weit geringerer Trainingseffizienz, versuchen und schaffen es aber trotzdem."

Foto: ÖLV_Nevsimal

Ohne es zu wissen, wiederholte Vojta dann, was eine Woche zuvor Eliud Kipchoge gesagt hatte, nachdem er in knapp über zwei Stunden in Berlin Marathonweltrekord gelaufen war. Jedenfalls behauptete das bei unserem Zieleinlauf dort der Platzsprecher: "Ich bewundere alle, die vier, fünf oder sechs Stunden durchhalten – ich weiß nicht, ob ich überhaupt so lange laufen könnte."

Klarer kann man den Gegensatz zum in Online-Ansagen gängigen "Das ist nix wert" kaum artikulieren.

Vojta wurde noch deutlicher: "Wenn jemand 15 Minuten mit Stöcken spazieren geht, habe ich vor ihm mehr Respekt als vor derartigen Online-Kommentatoren."

Foto: W.Lilge

Ins gleiche Horn stößt Julia Mayer. Mayer ist amtierende Staatsmeisterin über 5.000 und 10.000 Meter. Die Liste ihrer Erfolge und Titel ist deutlich länger. "Wenn man stolz auf einen Trainingslauf ist, weil der besonders schnell oder lang war, ist das gut so. Wenn man auf einen Wettkampf stolz ist, dann spricht das für sich." Mayer ist auch Testimonial des österreichischen Frauenlaufes und in dieser Rolle immer wieder als "Mutmacherin" mit Trainingsgruppen unterwegs.

Schwellenängste oder Niveaudünkel? "Man vergleicht ja auch keine Äpfel mit Birnen: Weder braucht eine Frau in so einer Gruppe das Gefühl zu haben, dass sie ‚abstinkt‘, noch muss ich sie aufmuntern, weil sie nicht ansatzweise das läuft, was ich laufe: Bewegung soll Spaß machen. Die Tatsache, dass Frauen oder Mädels sich zum gemeinsamen Training treffen, finde ich gut."

Foto: Tom Rottenberg

Kontrovers und problematisch, so Mayer, sei etwas anderes: "Das große Aber ist, dass sich durch Social Media die ganze Welt als 'Experte' präsentiert. Jeder dahergelaufene Influencer gibt Tipps. 'Hobetten' posten, sie seien Staatsmeister, sind aber tatsächlich österreichische Altersklassenmeister…"

Ob aus Ahnungslosigkeit oder Angeberei sei dahingestellt: "Natürlich kann das Leute aufregen, die sich auskennen: Rekorde/Bestzeiten läuft man auf zertifiziert-vermessenen Strecken, nicht beim Volkslauf über 9,7k in Hinterkaltenkirchen." Dass derlei zu Diskussionen führt, sei klar. Klar sei aber auch: "Beleidigend werden ist nicht okay."

Foto: Tom Rottenberg

Das Recht, auf eigene Leistungen ungeachtet ihrer Position im Universum stolz zu sein, unterstreicht auch Sandrina Illes. Die österreichische Duathlon-Weltmeisterin führt ebenfalls etliche Staats- und Vizestaatsmeisterinnentitel – und freut sich trotzdem mit "Schwächeren", insbesondere den von ihr Betreuten: "Ich kann mich da mit jedem Sportler ehrlich über eine persönliche Bestzeit oder die erstmals geschaffte Distanz mitfreuen, egal, wie schnell oder langsam das im Vergleich zu anderen ist.

Schade finde ich es immer, wenn – egal, auf welchem Leistungsniveau – das in eine Verbissenheit kippt, wo man wegen ein paar Sekunden auf oder ab unglücklich ist. Ob man auf zehn Kilometern um fünf Minuten schneller oder langsamer ist, sollte nicht über das Lebensglück bestimmen. Sport sollte Freude machen und Körper und Kopf gesund erhalten. Wenn diese Ziele erreicht sind, ist viel gewonnen."

Foto: www.sandrina-illes.at

Und dann spannt Illes den Bogen wieder zurück zum Verhältnis zwischen "Weltklasse" und "Hobbysport" und zum Stolz von Zigtausend "Hobetten" in Berlin und überall sonst auf der Welt: "Ich hab noch keinen Weltklassesportler getroffen, der Breitensportler belächelt hätte.

Mir fiele auch kein Grund dafür ein: Wenn im Internet Leistungen anderer herabgewürdigt werden, dann ist diese Person vermutlich selbst mit den eigenen sportlichen Erfolgen nicht im Reinen und gönnt daher auch anderen nichts. Sowas würde ich schon mal gar nicht ernst nehmen."

Stimmt alles. Doch im Fall der Pöbeleien nach dem Berlin-Marathon war das ohnehin anders: Da fuhren dem Grantler etliche Posterinnen und Poster in die Parade.

Und bestätigten so jenen Satz, den ein tschechischer Lauf-Veranstalter seit Jahren als Motto führt: "All runners are beautiful." (Tom Rottenberg, 4.10.2022)

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42,195 Kilometer in Berlin: "Ich bin gerade einen Marathon gelaufen!"

Wieder einmal auf der Suche nach dem richtigen Laufschuh

Foto: Tom Rottenberg