Die Simmeringer Hauptstraße zieht sich durch den elften Bezirk. Die Wahlentscheidungen könnten hier unterschiedlicher nicht sein.

Foto: Heribert Corn

Die Wahlplakate beim Hinterausgang des Einkaufszentrums im Gasometer sind verunstaltet. Eines zeigt Alexander Van der Bellen mit aufgekritzeltem Hitlerbart, ein zweites mit einem "Demokratie ist eine Lüge"-Pickel auf der Stirn, ein drittes mit einem Fragezeichen am Kopf. Zufall?

Der frisch wiedergewählte Bundespräsident Van der Bellen hat das Grätzel um die historischen Gasbehälter am Sonntag zwar – wie alle anderen Teile der Stadt auch – mit rund 55 Prozent eindeutig und absolut für sich entschieden. Doch gleichzeitig ist das Simmeringer Viertel, in dem knapp 1100 Personen ihre Stimme abgegeben haben, eine Hochburg seines linken Herausforderers Dominik Wlazny: Die mehr als 21 Prozent, die der Gründer der Bierpartei, Arzt und Sänger einer Punk-Band, rund um den Gasometer erreicht hat, sind sein bestes Ergebnis in der Hauptstadt.

"Das find ich gut", sagt eine blonde Frau, die einen Kinderwagen durch die verwinkelten Fußgängerwege zwischen den Backsteinbauten schiebt. Sie habe selbst darüber nachgedacht, Wlazny anzukreuzen, sicherheitshalber aber dann doch Van der Bellen ihre Stimme gegeben. "Viele finden den Wlazny hier sympathisch", erzählt sie.

Gechillte Gegend

An diesem Ende des Bezirks, an der Seite, die sich in Richtung Innere Stadt zieht, konnte Wlazny punkten. Dass er gerade im Elften seine Homebase hat, ist nicht besonders überraschend. Der jüngste Präsidentschaftskandidat hat in einer Altersgruppe besonders gut abgeschnitten: bei den Jungen. Während die Bevölkerung der Inneren Stadt im Durchschnitt 47,5 Jahre alt ist, weist Simmering mit einem Altersschnitt von 39,3 Jahren im Bezirksvergleich die jüngste Bevölkerung auf.

Dazu kommt: In elf der 23 Bezirksparlamente hat es Wlaznys Partei bei der Wien-Wahl 2020 geschafft. Er selbst werkt in der Bezirksvertretung Simmering, setzt sich dort für Kunst und Kulturprojekte ein oder impft als Arzt bei den Konzerten seiner Punk-Band Turbobier in der Arena.

Die dortigen Auftritte könnten mit ein Grund für Wlaznys gutes Abschneiden rund um die Gasometer sein, sagt ein etwas älterer Bewohner auf dem Weg zur U3-Station. "Der hat ja öfter drüben gespielt", sagt er und deutet in Richtung der Konzertlocation. Unsympathisch sei er nicht, der Wlazny. Gewählt habe er ihn aber trotzdem nicht. Ein junger Mann in beigem Wollmantel bei der Bushaltestelle hat eine andere Erklärung. "Die Gegend hier ist gechillt. Wahrscheinlich sind die Leute einfach gelassen."

Bester blauer Bezirk

Simmering ist ein Bezirk der Gegensätze: Neben Wlazny hat ein zweiter Präsidentschaftskandidat, der unterschiedlicher nicht sein könnte, hier sein höchstes Bezirksergebnis. Und verortet auch eine Hochburg in den Wiener Stadtteilen.

Ganz am Rand des Bezirks ist Albern jenes Grätzel, in dem Walter Rosenkranz von der FPÖ mit rund 22 Prozent sein stärkstes Ergebnis in der Bundeshauptstadt vorweisen kann. 1750 Menschen gaben hier ihre Stimme ab. Nur knapp 44 Prozent jener, die wahlberechtigt waren.

Bis 1938 war Albern eine eigenständige Gemeinde Niederösterreichs, seither ist das Viertel – das vor allem für seinen Hafen und den dortigen Friedhof der Namenlosen bekannt ist – Teil des elften Wiener Gemeindebezirks. Und trotzdem blieb Albern mäßig gut angebunden an die Stadt: In das Grätzel fährt keine U-Bahn, wer nicht in den Bus steigen will, muss sein Auto nehmen.

Während Wlazny 2020 – damals noch unter seinem Künstlernamen Marco Pogo – in Simmering Erfolge feierte, musste die FPÖ auch dort zurückstecken: Bei der Wahl 2020 verlor sie ihren einzigen Bezirksvorsteher – Paul Stadler musste nach nur einer Amtsperiode das Feld wieder für die SPÖ räumen. Denn Simmering ist ein klassischer Arbeiterbezirk: Er hat in ganz Wien den niedrigsten Akademikerinnenanteil, die Einkommen sind vergleichsweise gering. Trotz eines Minus von 28 Prozentpunkten blieb Simmering jedoch auch nach 2020 der stärkste blaue Bezirk.

Verwaiste Parteizentrale

Die Zentrale der Bierpartei in der Eyzinggasse ist am Tag nach Wahl jedenfalls verwaist. "Pogos’s Empire" steht auf dem Klingelschild eines schmucklosen Bürogebäudes, vor dem Eingang im zweiten Stock warten braune Kisten auf Einlass. Doch hinter der Milchglastüre rührt sich nichts. Womöglich dauerte die Wahlparty im Schutzhaus Zukunft auf der Schmelz im 15. Bezirk etwas länger.

Im Gasometer A fährt eine Frau mit Brille und leerer Kindersektflasche in der Hand nach unten. Wlaznys Wahlergebnis hat sie allerdings nicht gefeiert. "Ich habe den nicht gewählt", sagt sie und schüttelt heftig den Kopf. "Aber meine Tochter, die schon." (Oona Kroisleitner, Stefanie Rachbauer, 11.10.2022)