Auch gesellschaftspolitische Debatten verdienen Kommentator:innnen, die sich spezialisiert haben.

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In den ersten Monaten nach Ausbruch der Corona-Pandemie kursierte immer wieder der Schmäh, Österreich – das Land kann auch durch jedes andere ersetzt werden – habe gerade neun Millionen Virolog:innen. Soll heißen: Jeder und jede geriert sich als Expert:in, obwohl sie – no na – nur die eigenen Erfahrungen zurückgreifen kann. Die sind naturgemäß limitiert, werden aber trotzdem mit beeindruckendem Selbstbewusstsein und mit Verve als absolute Weisheit präsentiert.

Mit der inzwischen lang anhaltenden Pandemie ist das Verständnis für Spezialisierungen gewachsen. Jedenfalls in den Naturwissenschaften. Dass ein Augenarzt keine ausreichende Expertise über den Verlauf einer Covid-Erkrankung liefern kann, eine Internistin aber schon – obwohl beide zwar Medizin studiert haben, aber unterschiedliche Facharztausbildungen haben. So weit, so klar. Anders sieht es aber noch immer für die Geistes- und Sozialwissenschaften und ihre thematische Arbeitsteilung aus. Doch auch das wird langsam.

So scheint es zumindest angesichts der Debatte über den Publizisten Richard David Precht. Der Autor zahlreicher Bücher, seit vielen Jahren in diversen Talkformaten auf den Posten des einordnenden Philosophen gebucht, hat mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer ein Buch geschrieben. Darin klopfen sie die Medien auf ihre diskursverzerrenden Mechanismen ab (DER STANDARD berichtete). Wenige Monate davor erschien von Precht ein Buch zur Funktion der Arbeit in unserer Gegenwart, wiederum kurze Zeit darauf eines zu Staats- und Bürger:innenpflichten und davor eines zu künstlicher Intelligenz – und so weiter und so fort.

Anbiederung oder vor sich her treiben?

Das neue Medienbuch wird gerade ordentlich verrissen, vielleicht weil es genauer gelesen wird, immerhin stehen mitunter Journalistinnen und Journalisten selbst im kritischen Fokus. Sie würden Mehrheitsmeinungen machen, die gar nicht die Mehrheitsmeinung sind. Den Besprechungen zufolge sollen darin einige Widersprüche zutage treten. Und zwar so offenkundig, dass sich die Frage nach der "intellektuellen Integrität" stelle, wie es Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, im "Profil" formulierte.

Zum Beispiel meinen Welzer und Precht, einerseits würde der politische Journalismus unkritisch die Erzählungen der politischen Elite übernehmen, andererseits die Politik vor sich hertreiben. Pörksen kritisiert aber auch eine "erschütternde Lust", die "beiden Autoren irgendwie zur Strecke zu bringen". Nun, ganz so schlimm ist es nicht. Precht haut ein Buch nach dem anderen auf den Markt, sie verkaufen sich bestens – da darf gepfefferte Kritik schon mal sein. Vor allem, wenn ein Buch hinten und vorne inhaltlich nicht zusammenpassen will. Vielleicht hat aber die geballte Kritik auch damit zu tun, dass die Menschen in Zeiten zahlreicher Krisen und komplexer Debatten nach tiefergehenden Betrachtungen dürsten. Denn es wäre durchaus gewinnbringend, wenn wir Einschätzungen zu den großen Themen unserer Zeit – Klima, soziale Gerechtigkeit, Arbeit oder Gesundheit – von Geistes- und Sozialwissenschafterinnen bekämen, die sich jeweils lange damit beschäftigen, und nicht nur im Rahmen eines Buches – um dann zum nächsten Big Thing weiterzugehen.

Ein paar wenige für alles?

Womit wir bei den Spezialisierungen wären. Die Philosophie mit einer Naturwissenschaft vergleichen? Eine Frechheit! Zugegeben, der Vergleich hinkt tatsächlich ein wenig. Aber dennoch ist auch die Philosophie eine Disziplin mit verschiedensten Schwerpunkten. Analytische Philosophie, Sozialphilosophie, Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie oder Moralphilosophie. Die journalistische Arbeit kann freilich nicht immer so weit in die Tiefe gehen, zu verschiedensten inhaltlichen Debatten die jeweilige Koryphäe herauszusuchen und dann darauf zu hoffen, dass die auch antwortet, und auch noch verständlich. Es gäbe aber wohl einen Mittelweg zwischen diesem unrealistischen Weg und jenem, eine:n oder ein paar wenige für alles zu befragen.

Die auflodernde mediale Kritik an Precht müssten Journalist:innen aber konsequenterweise auch als Selbstkritik begreifen. Kantige, vereinfachte Botschaften gegen den vermeintlichen linken Meinungsmainstream – das "funktioniert". Aktuell zeichnet sich aber offenbar zart ein gewisser Überdruss an der ewiggleichen Armchair-Philosophie ab, sprich: einer intellektualistisch garnierten, gemütlich-zurückgelehnten Position, die faktische Machtverhältnisse und gesellschaftliche Realitäten ausblendet, weil man sie als ein bisschen fad empfindet.

Es ist eine positive Entwicklung, dass offenbar klarer wird, dass es nicht nur politischen, sondern auch intellektualistischen Populismus gibt, der wie der politische nicht weiterhilft, sondern eher polarisiert denn differenziert – sich aber wunderbar verkauft. (Beate Hausbichler, 12.10.2022)