Im Jahr 2005 kam ein Film in die Kinos, der unter Weinliebhabern für einige Aufregung sorgte. Die Dokumentation Mondovino beschäftigte sich mit der Globalisierung und Technologisierung der weltweiten Weinerzeugung. Er prangerte den exzessiven Einsatz von Hilfsmitteln an, um die Weine nach dem Geschmack der Zeit zu verändern und so einen Markt zu bedienen, der nach oberflächlichen, wuchtigen und fruchtigen Weinen mit früherer Trinkbarkeit verlangte. Und er verurteilte den Verlust von Charakter, von lokaler Typizität bei einhergehendem Rückgang der Vielfalt als unabweislicher Folge des Trends.

17 Jahre später zeigt sich rückblickend interessanterweise vor allem eines: nämlich, dass so gut wie alle Gefahren, die der Film aufzeigte, heutzutage in dieser Form gar nicht mehr bestehen. Was in erster Linie daran liegt, dass sich der Weinmarkt seit damals radikal verändert hat. Das wiederum ist den sogenannten Naturweinen geschuldet, die unter zahlreichen Weintrinkenden und in den angesagten Spitzenrestaurants von Wien bis Tokio zunehmend populärer werden. Obwohl solche Weine genau das Gegenteil von jenen versprechen, um die sich der Film dreht, bringen sie nicht unähnlich geartete Probleme mit sich.

Weinerzeugung braucht Zeit und Hingabe.
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Ohne Zusatz?

Zuvor bedarf es einer Begriffserklärung. Denn so etwas wie Naturwein oder "natural wine", wie er häufig genannt wird, gibt es genau genommen gar nicht. Wein ist immer auch Kultur und bedarf stets des Eingriffs des Winzers. Ließe man der Natur nämlich tatsächlich freien Lauf, würde aus Traubensaft Essig – und nicht Wein. Und so liegt die Kunst des Winzers mitunter darin, genau diese Entwicklung zu stoppen.

Gemeint sind also vielmehr Weine, in deren Entstehung der Winzer so wenig wie möglich eingreift. Was angesichts der unzähligen technischen und chemischen Hilfsmittel, die ihm heute zu Verfügung stehen, ein durchaus mutiger und freilich mehr als löblicher Ansatz ist. Zumal auf Weinflaschen keinerlei Auskunft über die Inhaltsstoffe gesetzlich vorgeschrieben ist. Mit Ausnahme des Zusatzes von Schwefel zur Haltbarmachung.

Doch bereits besagter Schwefel entzweit die Anhängerschaft der Naturweine. So meinen die einen, dass eine naturnahe Erzeugung auch gänzlich ohne Schwefelzusatz ablaufen müsse. Andere, weniger radikale Stimmen finden indes, dass ein geringes Höchstmaß erlaubt sein sollte. Die allermeisten stimmen jedoch überein, dass ein Fehlen von strikten Regeln Teil der Philosophie und des Reizes dieser Art des Weinmachens ist.

Mit Fehlern dennoch am Markt

Erleichtert wird die Arbeit durch den Verzicht auf beziehungsweise die Reduktion von Schwefel und sonstigen Hilfsmitteln jedenfalls keineswegs. Und so kommt es immer wieder vor, dass man in einem angesagten Lokal sitzt und von einer euphorischen jungen Servierkraft oder eines ebensolchen Sommeliers einen Wein serviert bekommt, der ganz eindeutig fehlerhaft ist – und in den schlimmsten Fällen gefürchtete Defekte wie Mäuseln oder Essigstich aufweist. Der Verdacht drängt sich auf, dass er von einem Winzer stammt, der es sich nicht leisten konnte oder wollte, einen solchen, misslungenen Wein einfach wegzuschütten. Und ihn folglich dennoch auf den Markt brachte. Häufig mit dem vermeintlichen Totschlagargument, dass der Wein eben so gemacht wurde wie das früher, also vor besagten technischen und chemischen Hilfsmitteln, üblich war.

Akzeptieren werden das wohl die Nostalgiker jener guten alten Zeiten, als es noch keine Kühlschränke gab, als die Butter noch ranzig schmeckte und man vom Brot erst den Schimmel entfernen musste. Und selbst wenn heute kaum noch wer am Leben ist, der sich an solche Zeiten erinnert, sei ihnen das dennoch unbenommen. Das Hauptproblem liegt nämlich woanders.

Andere Geschmacksprofile

Und zwar darin, dass besagte Defekte oder Fehlnoten oder wie auch immer man dazu sagen möchte, die in etlichen (durchaus nicht allen!) Naturweinen vorkommen, andere, noblere und gewünschte Aromen übertünchen. Mit dem Resultat, dass zahlreiche unter ihnen zwar völlig andere Geschmacksprofile aufweisen als die konventionellen Weine, sich dabei aber untereinander genauso ähneln und genauso austauschbar sind wie diese.

Hinzu kommt, dass Naturweine wegen des verringerten Gehalts beziehungsweise des Fehlens von Schwefel weniger lange haltbar sind. Und somit, wiederum genau wie die verpönten konventionellen Weine, vornehmlich jung getrunken gehören. Das allerdings raubt Liebhabern das Vergnügen von gut gealterten Weinen. Und damit auch die Vielfalt an neuen und komplexen, womöglich einzigartigen Aromen, Geschmacks- und Duftnoten, die so manche Weine erst während der Zeit ihrer Reifung entwickeln.

Ein Trend

Und wie immer stirbt mit der Vielfalt auch ein wenig Schönheit und ein Stück Lebensfreude. So gesehen trifft auf viele der naturbelassenen Weine inzwischen genau das zu, was der Film Mondovino seinerzeit an ihren technisch konstruierten Counterparts kritisierte. Nämlich dass sie nicht viel mehr sind als das Resultat eines Trends, eine marktfreundliche Modeerscheinung, die gegenüber dauerhafter Qualität die Überhand gewinnt. Was wiederum so lange der Fall sein wird, wie Gäste und Verbraucher Weine akzeptieren, deren offenkundige Fehlerhaftigkeit man ihnen dreisterweise als beabsichtigt beziehungsweise als "natürlich" verkauft. (Georges Desrues, 26.10.2022)