Wir leben mit großer Sicherheit an einer "Zeitenwende", wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erstmals ein paar Tage nach dem Überfall Wladimir Putins auf die Ukraine ausgedrückt hat.

Wir sehen aber eher wenige Anstrengungen, in Österreich und in der westlichen Welt, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Vorläufig scheinen Verwirrung, Bedrückung und diffuse Zukunftsangst vorzuherrschen. Die "Wende" in unserer Gesellschaft und Politik, die zwangsläufig auf die Zeitenwende folgen muss, wenn die ganze Sache nicht schiefgehen soll, ist bestenfalls in Umrissen auszumachen.

Dennoch sind Verzagtheit und Lähmung durch Furcht nicht notwendig und angemessen. Österreich, Europa und die westliche Welt insgesamt sind resilient genug (um ein neues Modewort zu verwenden), um sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Die sind allerdings ziemlich heavy – Russland und China haben ganz offensichtlich beschlossen, ihre Vorstellungen von nationalistischen und totalitären Ordnungen ganz Europa (Putin) bzw. der Welt (Xi Jinping) aufzuzwingen, mit allen, auch wirtschaftlichen, Folgen. Die Abhängigkeit vom russischen Gas und vom chinesischen Absatzmarkt drastisch zu reduzieren kann, muss gelingen, wenn es auch hart wird. Die USA, der (auch militärische) Garant einer halbwegs demokratischen Ordnung zumindest des Westens, sind in höchster Gefahr, selbst den demokratischen Status zu verlieren.

Putin und Xi Jinping bedrohen die demokratische Ordnung.
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Konsensdemokratie?

Über all dem schwebt das riesige Damoklesschwert des Klimawandels, im Angesicht dessen – noch? – nicht sichtbar ist, wie Politik und Gesellschaft der verschiedenen Länder zeitgerecht darauf eingehen werden.

Bleiben wir aber zunächst im Lokalen, im Praktischen. Österreichs politisches und gesellschaftliches System war seit Kriegsende letztlich auf eine Konsensdemokratie ausgerichtet.

Das hat stark nachgelassen, um es milde zu beschreiben. Die ÖVP ließ einen jugendlichen Blender wie Sebastian Kurz und seine Boys gewähren. Die FPÖ wiederum hat sich spätestens seit Jörg Haider radikalisiert und strebt ein anderes, antiliberales Staatsmodell an. Die SPÖ schließlich weiß einfach nicht genau, wer sie sein will. Dazu kommt, dass sich die politische Szene ausdifferenziert hat. Monolithische "Großes Zelt"-Parteien werden nicht mehr so einfach akzeptiert. Die Grünen, die Neos, die vielen Eintagesparteien sind die Reaktion darauf.

Es würde schon genügen, wenn sich die wichtigsten politischen Akteure in allen politischen Parteien darauf verständigen könnten, zunächst sich selbst fit für die Zeitenwende zu machen. Die ÖVP müsste erkennen, dass sie ihre eigene Korruptionsverlotterung nicht länger aussitzen kann. Die SPÖ müsste sich selbst Rechenschaft darüber geben, dass sie keine erkennbaren Inhalte und eine schlechte Taktik hat. Die Neos brauchen den Durchbruch zu einer praktikablen Mittelschichtpolitik. Die Grünen dürfen sich die Klimapolitik nicht länger von suppenschüttenden Sektierern wegnehmen lassen. Und die FPÖ könnte sich allen Ernstes fragen, wie sie aus der Radikalisierung wieder herauskommt.

Viel verlangt. Aber mit einem "Weiter so" wird es nicht gehen. (Hans Rauscher, 1.11.2022)